„Flush“, Sheena McGrandles ©Michiel Keuper

Die Tanzfläche in Stücke schneiden

TANZPLATTFORM 2022 >>>Flush“ von Sheena McGrandles, uraufgeführt 2020, wurde im Rahmen der Tanzplattform 2022 am 16. und 17. März gezeigt und basiert auf Videoschnitttechniken. Bewegung und Sprache werden zu Material, das zerschnitten, gefaltet, manipuliert und wieder zusammengenäht wird, um ein absurdes Patchwork zu bilden.   


Scrollen Sie nach unten, um einen zweiten Text zu Sheena McGrandles „Flush“ zu lesen, entstanden im Rahmen der zweitägigen tanzschreiber-Schreibwerkstatt zur Tanzplattform 2022 unter der Leitung von Mareike Theile, Johanna Withelm und Alex Hennig. 


Die Bühne in den Sophiensælen ist leer geräumt – eine große Spanplattenwand steht schräg, mit auffälligen Markierungen aus weißem Klebeband auf dem Boden davor. Es sieht aus wie in einem Proberaum, einem alltäglichen Raum, der sich hartnäckig dem Drang widersetzt, sich für eine Show schick manchen zu wollen. McGrandles, Annegret Schalke und Ewa Dziarnowska treten hinter der Wand hervor und gehen langsam im Gleichschritt. Sie führen ein Klatschen, ein Niesen oder einen Sturz vor, wobei jede von ihnen in einer anderen Phase der Bewegung innehält. Die Handlungen selbst sind alltäglich, aber die künstlichen Standbilder und die bedeutungsschwangeren Pausen laden uns ein, sie neu zu betrachten.

Es stellt sich heraus, dass die Spanplattenwand aus fünf Segmenten besteht, die auseinandergezogen und neu positioniert werden, wodurch der Raum neu strukturiert wird. Die Performerinnen bearbeiten ihre Handlungen und Worte, beschleunigen, kehren um, verlangsamen sie oder bleiben in Bumerangschleifen stecken. Am stärksten wirkt die Performance, wenn der Text oder die Bewegung so gedehnt oder willkürlich zerstückelt wird, dass die ursprüngliche Absicht unsichtbar oder irrelevant wird. An einer Stelle sitzt Schalke auf einem umgedrehten Spanplattensegment und grölt zur Musik, wobei sie zwischen verschiedenen Haltungen wechselt, während McGrandles und Dziarnowska sich auf dem Boden wälzen, irgendwo zwischen einer Art Umarmung und einem Ringkampfgriff. Die Absurdität bricht auf, ich erblicke eine gewisse unerklärliche Menschlichkeit und das ist fesselnd. Es gibt auch winzige, subtile Momente, die sich immer wiederholen und aus denen man tausend Dinge herauslesen kann, wie eine Hand, die eine Schulter berührt, sich dann aber wieder zurückzieht. Es gibt aber auch lange Phasen, in denen das Material erkennbar bleibt und sogar mit Klischees spielt, wenn theatralisches Lachen, Schmerz oder Freude in Superzeitlupe vorgeführt werden. In diesen Momenten fällt es mir schwer, über die rein technische Manipulation der Bewegung hinwegzusehen.

Stellan Veloces witziges, synthieartiges Sounddesign dient oft als rhythmische Grundlage für die sprunghaften Bewegungen der Darstellerinnen. Dziarnowska erzählt einen kitschigen Witz, eine Silbe pro Takt, bevor sie in stakkatoartiges Gelächter ausbricht, McGrandles erklärt dies mit den Worten: „Sie ist eine Performerin“. Und das sind sie tatsächlich alle drei – sie sind Clowns für uns, sie drehen sich um und synchronisieren die Lippen, fast immer dem Publikum zugewandt, um (viele) Lacher zu ernten. Videobearbeitungstechniken, vor allem die, die online verwendet werden, werden oft eingesetzt, um den Körper so zu manipulieren, dass er etwas bewirbt oder verkauft, einschließlich seiner selbst und ich frage mich, ob ich in dieser Arbeit etwas über den performativen, kapitalisierten Körper finden kann. Doch was genau, bleibt schwer zu sagen.

“FLUSH“ ist zum Teil von Gertrude Steins Beschreibung ihrer Theatertexte als „Landschaften“ inspiriert, die Wiederholungen und Abstraktionen gegenüber linearen Erzählungen bevorzugen. (Es erinnert mich auch an die von William S. Burroughs populär gemachte Cut-up-Technik, bei der ausgeschnittene Sätze neu kontextualisiert werden, um ihnen neue, surrealere Bedeutungen zu verleihen). Historisch gesehen hat der Tanz ein deutlich anderes Verhältnis zu Bedeutung und Abstraktion als die Literatur oder das Theater – im Tanz ist oft mehr Platz für das Surreale und das Nichtlineare. Es ist also interessant zu reflektieren, was passiert, wenn man diese, die Logik unterbrechenden Prinzipien, auf eine von Natur aus “unlogische“ Kunstform anwendet. Wird das Werk dadurch von alten Zwängen befreit, oder werden ihm neue auferlegt? Und hänge ich vielleicht mehr an der Bedeutung, als ich dachte? Irgendwie fällt es mir trotz der technischen Fertigkeiten und der charismatischen Performerinnen schwer, eine Verbindung zu dieser Arbeit aufzubauen – aber ich glaube, ich bin damit in der Minderheit.

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente


Foto: „Flush“ von Sheena McGrandles. Von links nach rechts: Ewa Dziarnowska, Annegret Schalke, Sheena McGrandles ©Michiel Keuper


Der folgende Text von Katja Wiegand entstand im Rahmen der zweitägigen tanzschreiber-Schreibwerkstatt zur Tanzplattform 2022 unter der Leitung von Mareike Theile, Johanna Withelm und Alex Hennig. Inspiriert von der Lust am Text und im Austausch über Tanz und Tanzkritik wurde die eigene Schreibpraxis erweitert und herausgefordert.


Nostalgie des Alltags

Die Performance „Flush“ von Sheena McGrandles, präsentiert im Rahmen der Tanzplattform 2022, gleicht einem rhythmischen Spiel aus Pausen, Slow Motion und Fast Forward und enthüllt, was im Alltag schnell vergessen ist.

Text: Katja Wiegand, 20. März 2022

In „Flush“ stecken die drei Performer*innen Sheena McGrandles, Annegret Schalke und Ewa Dziarnowska in Zeitschleifen fest, die sich während der Performance zu Knoten zusammenschnüren, öffnen, wieder schließen und entknotet werden um dann erneut wieder aufgerollt zu werden, und entwerfen so eine Performance, die der Ästhetik von Videos nachkommt.

Die Arbeit mit Tempo, Stillstand, Slow Motion wie auch beschleunigten Bewegungen machen sichtbar was sonst unsichtbar ist oder kaum bemerkt wird. Es sind die Bewegungen des Alltags, Gesten der Kommunikation und vor allem Gesichtsausdrücke, welche so ausgestellt eine Komik, wie auch eine Nostalgie des Alltags erschaffen. Diese gestückelten Alltagsrealitäten werden episodenhaft erzählt, Sprechpausen und Wiederholungen markieren eine eigene Rhythmik, die neben der Musik den Soundtrack von „Flush“ bilden. So treffen sich die drei Performer*innen vor einer Wand aus Spanplatten, die im weiteren Verlauf der Performance geöffnet wird und Raum sowie Rahmung für die Choreografie bietet. Die Erzählungen entfalten sich zwischen Pause, Slow Motion und Fast Forward, während sich die Performer*innen zwischen, hinter, und auf den fünf Wänden aus Spanplatten bewegen und entwerfen dabei dramatische Momente sinnlicher Erfahrungen, die immer wieder ins Absurd-komische abdriften. Im Balanceakt zwischen Netflix-Ästhetik und dem Stil alter VHS-Filme der 80er und 90er Jahre wechselt das Erzählungsmuster sprunghaft, exponiert dabei zwischenmenschliche Aktionen und inszeniert diese getreu einem Melodrama: Das Genre des Melodramas erlaubt eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Musik, Text und Tanz, die letztlich auf die Gefühlsebene herunterbricht.

Ich erwische mich, wie ich in Gedanken umherspringe: mal zu alten VHS-Filmen meiner Eltern, auf denen ich als Kind zu sehen bin, wie ich auf einem deutschen (längst nicht mehr zelebrierten) Volksfest Bonbons aufsammle während meine Mutter das Geschehen auf Russisch für meine Großmutter übersetzt, die später das Video erhalten soll – dann springt mir wieder die Mauer aus Spanplatten ins Blickfeld und ich denke an die Berliner Mauer und daran, dass ich kurz nach der Wende geboren wurde – und dann holen mich meine Gefühle und Erinnerungen ein; sei es Angst um die Zukunft, Nostalgiegefühle gegenüber meiner Kindheit, aber auch die Freude, wieder in einem vollbesetzten Theater sitzen zu können.

Die Protagonist*innen in „Flush“ sind Opfer und Helden des Lebens zugleich, sie scheitern oder verzweifeln daran, oder sie genießen Momente der Freude, des Erfolgs, der Liebe. Wie schnell vergessen wir diese Momente und wünschten uns, einige davon noch einmal erleben zu können. „FLUSH“ erzählt so eine Never-Ending Story, wie ein Video in Endlosschleife.


Foto: „Flush“ von Sheena McGrandles ©Michiel Keuper


“Flush” von Sheena McGrandles war am 16. und 17. März in den Sophiensælen im Rahmen der Tanzplattform 2022 zu sehen.


Konzept und Choreografie: Sheena McGrandles / ​Performance: Sheena McGrandles, Annegret Schalke und Ewa Dziarnowska / ​Musik: Stellan Veloce / Text: Mila Pavicevic and Sheena McGrandles / Dramaturgie: Mila Pavicevic and  Thomas Schaupp / ​Bühnen- und Kostümbild: Michiel Keuper and Martin Sieweke.