„SHE LEGEND“, Carolin Jüngst / Lisa Rykena ©Daniel Dömölky

Kampf der Superheld*innen

TANZPLATTFORM 2022 >>> In „SHE LEGEND“ eignen sich Carolin Jüngst und Lisa Rykena die archetypischen Narrative des maskulinen Superhelden-Kosmos’ an und deuten sie queerfeministisch um. Die Reinszenierung der 2019 uraufgeführten Performance findet am 16., 17. und 18. März im Rahmen der Tanzplattform 2022 im HAU3 statt.

Aus den Lautsprechern kommt ein Rauschen. Sirenen pfeifen, robotisches Vogelzwitschern erklingt und ein Signalton piept (Musik & Sounddesign: Konstantin Bessonov). Carolin Jüngst (she/they) und Lisa Rykena (she/her) ruhen außerhalb eines weißen Quadrates, das als Tanzboden flach aufliegt (Bühne: Lea Kissing). Hinter ihnen hängt, wie ein Warnzeichen, ein großes Dreieck mit leuchtend roten Rändern mit der Spitze nach unten von der Decke. Es erinnert mich an die Abzeichen von Superheld*innen, die als Erkennungsmerkmale auf ihren Brustkörben platziert sind. Jüngst und Rykena tragen graue und neonrote Sportshorts und marmorierte Bomberjacken (Kostüm: Hanna Scherwinski) und beginnen sich um das weiße Feld zu bewegen. Dabei schreiten sie mit ihren Händen in den Jackentaschen voran und scheinen den Gang eines Vogels zu imitieren. Ihre Bewegungen werden von lauten Sounds begleitet, die ihren Schritten einen comichaften Ausdruck verleihen. Sobald sie sich dem weißen Boden nähern oder ihre Hände darüber schweben lassen, wirken sie wie elektrisiert. Durch die Ladung scheint auch der lange geflochtene Zopf von Carolin Jüngst für kurze Zeit aufrechtzustehen. Kurz darauf werden die beiden mutiger und springen um das Feld, werfen ihre Jacken zu Boden, nehmen Anlauf über ein, in einem weißen Klotz versteckten, Trampolin, wippen zuerst und hüpfen dann in die weiße Fläche.

In den folgenden Szenen, bei denen zunächst nicht klar ist, ob sie gegeneinander oder miteinander kämpfen, mischen sich ihre ausdrucksstarken Bewegungen mit Comicsounds, mal aus den Lautsprechern, mal als Lautmalereien und Gesang aus ihren eigenen Mündern und vereinzelt mit Blockbuster-Filmmusik. Sie finden sich in einer Situation wieder, in der sie die Welt retten müssen, die sich in Schwierigkeiten befindet. Während ihres gemeinsamen Kampfes gegen eine*n unklare*n Gegner*in reißen sie sich gegenseitig ihre Herzen heraus und transplantieren sie sich an andere Körperstellen. Es pocht im Knie, im Gesicht, in der Hand, im gesamten Körper. Zwischendurch wird es dunkel und das strahlende Dreieck kreist immer schneller, Lichtreflexe bilden helle Gewitterwolken auf der Fläche, es donnert und regnet (Lichtdesign: Ricarda Schnoor & Joanna Ossilinska). Jüngst und Rykena fallen zu Boden. Dazu verdammt einer unendlichen Mission zu folgen, erwachen sie nach erfolgten Kämpfen erneut in einer schleimigen Umgebung. Ein geschrienes „Fuck!“ beendet die Performance abrupt (Dramaturgie: Helen Schröder), doch der Kampf geht weiter.

Die Einordnung des Bühnengeschehens in einen queerfeministischen Kontext wird evident durch ein kleines Heft, das auf den Sitzplätzen im Publikum ausliegt. In der kurzen Einleitung erklären Lisa Rykena und Carolin Jüngst ihre Absicht, die queeren Potenziale der Comicwelt herauskitzeln zu wollen, indem sie die maskulinen Heldenerzählungen verdrehen. Ergänzt wird das Heft durch Comiczeichnungen und Illustrationen von Jul Gordon, Larissa Bertanasco und marialuisa.

In den Heldenepen der antiken und mittelalterlichen Mythologien sind es in der Regel idealisierte, archetypische Männer, die die Drachen bekämpfen oder mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten den Göttern nahestehen. Auch die muskulösen Superhelden der Marvel- und DC-Comics, darunter Superman, Spiderman, Batman oder Hulk, sind mit ihren Superkräften allzeit bereit, die Welt – und meistens eine Frau im Speziellen – im Alleingang vor dem Bösen zu retten. In zahlreichen Science-Fiction-Blockbustern retten hybride Wesen, halb Mensch halb Cyborg, mittels ihrer potenten Extensionen die Welt und eine Frau vor Eindringlingen aus dem All. Den weiblichen Heldinnen wie Brunhild aus der Nibelungensaga und der Jagdgöttin Diana werden hingegen Attribute wie Jungfräulichkeit zugeschrieben, die in patriarchalen Gesellschaften als erstrebenswert überliefert werden. Ebenso entspringen Elektra, Catwoman und Wonder Woman als hauteng bekleidete Superheldinnen und futuristische Amazonen, beziehungsweise als Schurkinnen, den sexualisierenden Fantasien ihrer männlichen Schöpfer und werden häufig mit Peitschen oder in devoten Fesselszenen inszeniert, bei welchen zumindest Wonder Woman ihre Superkräfte verliert.

Mit diesem Brocken an epischen, gewaltvollen und sexistischen Narrativen nehmen es die queerfeministischen Kämpfer*innen Carolin Jüngst und Lisa Rykena auf. Durch kollektive Gesten des (Ver-)Suchens, Imitierens, Rekonstruierens und Neubeginnens gelingt es ihnen auch mit Humor, das männliche Heldentum zu entmystifizieren und den sexualisierenden Darstellungen von weiblich gelesenen Kämpferinnen entgegenzutreten. In ihrem schier unaufhörlichen Kampf retten sie die Welt – womöglich vor dem Bösewicht namens Patriarchat, der mit seinen toxischen Fangarmen seit Jahrtausenden sein Unwesen treibt. Womöglich auch vor binären Kategorisierungen von Gut und Böse, Held und Antiheld, Mann und Frau – als potenzielle Antwort auf Donna Haraways Cyborg Manifesto, das zur Rekonstruktion von Identität und Beziehungskonzepten aufruft.


„SHE LEGEND“ von Lisa Rykena & Carolin Jüngst ist im Rahmen der Tanzplattform 2022 am 16., 17. und 18. März im HAU3 zu sehen. Hier geht’s zu SHE LEGEND – Der Comic zum Stück.


Künstlerische Leitung, Choreografie & Performance: Carolin Jüngst, Lisa Rykena / Dramaturgie: Helen Schröder / Bühne: Lea Kissing / Musik & Sounddesign: Konstantin Bessonov / Kostüme: Hanna Scherwinski / Lichtdesign: Ricarda Schnoor & Joanna Ossilinska / Produktion, Kommunikation und Presse Hamburg: Stückliesel / Presse München: Katharina Wolfrum, Martina Missel (Rat & Tat Kulturbüro) / Touring, Distribution: Carolina Brinkmann (LEAD Productions).