„UNREST“, Sergiu Matis ©Zé de Paiva

Ruhende Körper

Alte Mythen hallen durch ein Industriegewölbe in Sergiu Matis‘ “UNREST”, aufgeführt im Rahmen des FEMINIST FUTURES FESTIVAL der Tanzfabrik Berlin vom 2. bis 5. November 2022. Sie sind das Material, mit denen die Künstler*innen Natur und Zukunft der Menschheit hinterfragen.

Staubige Steinstrukturen in symmetrischen Formen, hoch aufragend in den riesigen, höhlenartigen Sälen der ehemaligen Reinickendorfer Brennerei Monopol. Das Bild lässt mich an eine Kreuzung von archäologischer Ausgrabungsstätte und dem Tempel einer antiken Zivilisation denken. Es ist ein angemessener Ort für eine Inszenierung, die alte griechische, sumerische und römische Legenden mit den unbequemen Fragen nach der Zukunft der Menschheit überlagert. 

Lisa Densem, Manon Parent, Maria Walser, Martin Hansen und Moo Kim erzählen uns Epen von den Sterblichen und Göttern. Mal im Sprechgesang, mal singend begleiten sie sich auf elektrischen Leiern, die Emma Juliard für sie gebaut hat. Der Text ist dicht, flimmert zwischen Poesie und Prosa, doch hinter den immer wiederkehrenden Geschichten von Fluten, Feuern und Entwaldung lauert der Schatten der ökologischen Katastrophe. Es liegt etwas Paradoxes in den Bewegungen der Performenden. Sie schwanken beim Sprechen, scheinen zu gestikulieren, abstrakt, zögerlich, und doch sicher. Sie wirken zierlich vor dem riesigen, bröselnden Mauerwerk und den Stahlgittern. Sie erzählen Geschichten von Menschen, die launischen Gottheiten ausgeliefert sind. Ihr Anblick ist ständige Erinnerung an die fragile Resilienz des menschlichen Körpers. 

Während die Mythen durch den industriellen Raum hallen, denke ich an die Centrale Montemartini in Rom: Das Museum stellt antike Skulpturen in einem ehemaligen Kraftwerk aus. Die Konfrontation von Klassik und Industriezeitalter, zwei Äras, die oft als entscheidende Momente in der Entwicklung der westlichen Zivilisation verstanden werden, lässt mich nach den signifikanten Verbindungen zwischen beiden suchen. Ist es die generelle Verschiebung vom Versuch, die Welt, in der wir leben, zu verstehen, hin zum Wunsch, sie zu gestalten oder sie auszubeuten? Wenngleich ich keine direkte Referenz erkenne, ist das doppelte Gespenst des globalisierten Kapitalismus und Kolonialismus doch omnipräsent. 

Dann werden Teppiche, riesige, schwarze Mülltüten aus Plastik und Kunstrasen über die Steinskulpturen ausgerollt. Der erkennbar menschliche Schutt scheint die Halle des Olymps plötzlich zu schrumpfen. Die Stimmen der Performenden schwellen an zu einem furiosen Chor, verstärkt durch die ohrenbetäubende Klänge des apokalyptischen Sound Designs, und das Werk erweitert sich ein weiteres Mal, um sowohl dem Veranstaltungsort als auch dem Thema gerecht zu werden. Es wird leiser im Saal, man serviert uns Tee, und Parent liefert einen prägnanten Monolog. Sie verkörpert die Erde, beklagt ihre Zerstörung. Die enormen Dimensionen der Klimakrise konzentrieren sich in einer einzelnen Stimme des Leids. Die permanente Veränderung des Maßstabs destabilisiert. Es ist die Verweigerung der völligen Hingabe, ist weder Hybris noch Erniedrigung, weder Hoffnung noch Verzweiflung. Letztlich vertrauen wir niemandem mehr – weder dem Menschen noch den Gottheiten. Es ist komplex, widersprüchlich und immer wieder überwältigend. Ähnlich wie das Gefühl des Individuums im Angesicht einer Katastrophe von globalem Ausmaß.

Die Performance endet mit der Präsenz der Tanzenden in unseren Reihen. Sie sitzen zwischen uns im Publikum, als säßen wir am Lagerfeuer, und erzählen Geschichten vom weiblichen Widerstand gegen die ökologische Ausbeutung; viele längst vergessene, unbekannte oder erst in jüngerer Zeit erkannte Geschichten. Zum Beispiel von Eunice Newton Foote, die erste Wissenschaftlerin, die die Theorie der Erderwärmung durch steigende CO2-Werte in der Atmosphäre auf den Weg brachte, oder Françoise d’Eaubonne, die Begründerin des Ökofeminismus. Als Gegenpositionen zu den männlichen Heldensagen, unseren jahrtausendealten Mythen, müssen diese vergessenen Stimmen und verschwiegenen Narrative zu Gehör gebracht werden. Nach einer knapp zweistündigen dynamischen Performance erscheinen diese schmucklosen Stories jedoch bedauerlicherweise nur als Addendum. Gäbe es denn, so frage ich mich, Möglichkeiten, diesen Stimmen die gleiche künstlerische Aufmerksamkeit zu widmen, wie den Legenden von den Heroen, ohne dass ihre dringende Relevanz sich verliert? Vielleicht wäre das die Aufgabe künftiger Generationen von Mythen-Interpretierenden? Doch es bleibt die Frage, welche Zukunft wir ihnen hinterlassen. 

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Die Performance „UNREST“ von Sergiu Matis wurde vom 2. bis 5. November 2022 im Monopol aufgeführt, im Rahmen des FEMINIST FUTURES FESTIVAL der Tanzfabrik Berlin.