„Spektralbewegung“, Andrea Danae Kingston / progress – das festivalensemble der Klangwerkstatt Berlin ©André Fischer / Klangwerkstatt Berlin

Klang-Körper in Bewegung oder: Dort tanzt ein Kontrabass

Im Rahmen der Klangwerkstatt Berlin 2022 – Festival für Neue Musik im Kunstquartier Bethanien vereint das Festivalensemble progress mit „Spektralbewegung“ unter der Leitung von Sylvia Hinz erneut junge Musiker*innen der Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg mit professionellen Neue-Musik-Expert*innen. In diesem Jahr erstmalig dabei ist die australische Choreografin Andrea Danae Kingston, die gemeinsam mit dem Ensemble eine choreografisch-bewegte Struktur erarbeitet hat.

Es ist Sonntag, einer der ersten wirklich kalten Novemberabende, der Wind beißt, als ich das Bethanien betrete. Das Studio 1 strahlt mit seinen hohen Decken, Säulen und Rundbögen für sich schon eine erhabene Ruhe aus, das siebenköpfige Ensemble progress sitzt bereits in der Mitte des Raums auf dem Boden, ruhig und konzentriert, während die Zuschauer*innen eintreten. Ich setze mich ebenfalls, links von mir eine Bühnenempore mit Musikpult und Soundequipment, rechts ein Podest mit Klavier, Kontrabass, vier Notenständern. Ich befinde mich schon jetzt fast in einem Zustand der Entspannung.

Achsen, Kreise, Parallelen

Die Komposition Axe (rumänisch: Achse) von der Rumänin Ana-Maria Avram, eine führende Vertreterin des Spektralismus[1], wird heute in der Bearbeitung von Sylvia Hinz für Oboe, Blockflöte, Viola und Kontrabass von vier Ensemblemitgliedern uraufgeführt und von drei weiteren tänzerisch begleitet. Es ist der Versuch einer Übertragung von Klangelementen auf menschliche Körper: Während die Klänge sich tief, prall und gewaltig im Raum ausbreiten und die drei tanzenden Körper umhüllen, zeichnen diese mit ihren Füßen Kreise in den Boden, bilden liegend Linien, ordnen sich permanent neu im Raum an. Das Klangspektrum fächert sich in einer unendlichen Vielzahl auf – es reicht in meiner Wahrnehmung von dumpf bis quietschend, zirpend bis zerrend, plätschernd bis grollend und transformiert sich fortwährend – die Tanzenden dehnen den Klang in der Bewegung aus, reduzieren oder ergänzen ihn, spielen mit Verlängerung und Kontrastierung. Die Musiker*innen und Tanzenden synchronisieren sich miteinander ohne erkennbares Zeichensystem, der Raum wird mehr und mehr ein Ganzes, die Unterschiede beginnen langsam zu verschwimmen.

Ich denke beim Wahrnehmen der Körper und Klänge, dass Neue Musik vielleicht im Grunde wie Zeitgenössischer Tanz ist. Im Flüchtigen und Prozesshaften, im Erreichen eines ähnlichen Abstraktionslevels, und vielleicht auch in einer vermeintlichen Nicht-Lesbarkeit.

Klangbilder in Bewegung

Das Stück Sound Picture der irakisch-kurdischen Komponistin Khabat Abas wird von drei Blockflötenspielerinnen interpretiert. Viele wunder- und seltsame, tiefe und breite, hohe und spitze, schöne (um dieses Wort jetzt doch einmal zu benutzen) und nichtschöne Klänge strömen in den Raum. Oft nicht als Flötenklänge zu erkennen, pfeifen, gurgeln und fiepen sie durch die Luft. Vier Ensemblemitglieder, eben noch am Instrument, sitzen zugleich aufrecht auf einer Podestkante, die Oberkörper sacken ab in Richtung Boden, ein Armhaufen hebt sich. Hände durchstreifen den Raum, Arme zeichnen Linien, Körper-Raum-Konstellationen bilden sich und verschwinden wieder, wippende Körper lassen ihr Gewicht zum Boden tropfen. Bewegung, Raum und Klang beginnen miteinander zu verschmelzen.

Ich widerstehe problemlos dem Impuls, mich auf die Spurensuche nach Narrationen und Bedeutung zu begeben, denn alles entzieht sich einer Deutung. Und doch: alles folgt hier auch einer inneren Logik, auch wenn ich diese nicht entziffern kann. Der Tanz steht nicht für sich, sondern bringt sich in Relation zu Klang und Raum erst hervor. Eine transdisziplinäre Versuchsanordnung mit Klang-, Körper- und Raumzutaten, die in ihrer Wirkung nicht planbar ist und uns in gewisser Weise auf uns selbst zurückfallen lässt.

Klangtanz

Wo zuvor noch Reste räumlicher oder habitueller Trennung zwischen Instrumente spielenden Musiker*innen und sich bewegenden Körpern zu sehen waren, gerät in Spektralbewegung von der Tänzerchoreografin Andrea Danae Kingston – einem Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Ensemble – alles durcheinander, oder: wird zu Einem. Ein helikopterartiger elektronischer Sound (Soundkollektiv Catenation) schleicht sich heran. Körper wandern fließend durch den Raum, setzen sich zu wechselnden Formationen zusammen, sinken wippend auf und ab, erzeugen Bewegungsrhythmen als Antwort auf Klangrhythmen oder umgekehrt. Kleine Kabelmikrofone werden an Rettungsfolien, Krepppapier, mit Wasser oder Murmeln befüllten Gläsern entlanggeführt. Das elektronisch verstärkte Knacken, Knistern, Kratzen und Klimpern verbindet sich mit elektronischen submarinen Blubberklängen und lässt meinen Körper vibrieren.

Und dann beginnen die Instrumente zu tanzen: Viola, Oboe, Kontrabass, drei Blockflöten und ein Klavier erscheinen in ihrem jeweils eigenen Charakter, werden von Körpern bewegt (und andersherum) während sie Klänge von sich geben, alles existiert jetzt gleichwertig nebeneinander. Zwischen musizierenden Tänzer*innen und tanzenden Musiker*innen ist zuletzt kein Unterschied mehr erkennbar, Klänge und Körper werden eins, spitzen sich zu, bewegen sich schlängelnd, wabernd und im Schwarm in Richtung Publikum. Bis die Klänge weniger werden, das Licht heller, alles langsam und gemeinsam ausklingt.

In mir drinnen hallt es noch nach, pulsiert weiter und gelangt noch bis nach draußen an die kalte Novemberluft, in Kreuzberg, an diesem Sonntagabend.


[1] eine Kompositionsweise, die sich auf die Klangfarbe konzentriert, und ihre Formen aus kontinuierlichen Prozessen statt abgegrenzten Abschnitten generiert.


Klangwerkstatt Berlin 2022 – Festival für Neue Musik fand vom 4. bis 13. November 2022 im Kunstquartier Bethanien statt. Weitere Informationen zum Festival und Programm unter www.klangwerkstatt-berlin.de.