„Bioswop“, SEE! ©Christian Knieps

Ein absurder Kreißsaal der Lebensabschnitte

Alle Biografien einmal gut durchmischen und neu verteilen. Fünf Performer*innen des Kollektivs SEE! (SE Struck und Alexandra Knieps) testen in “Bioswop” den Lebenslaufaustausch als Annäherungsmöglichkeit an die Verankerung der eigenen Identität, aufgeführt am 4./5. November 2022 im Ballhaus Ost. 

Verwandelt in einen weißen Würfel, wirkt der Saal des Ballhaus Ost, von den dunklen, verregneten Novemberstraßen kommend, für mich blendend und fast klinisch. Die Deckenbeleuchtung (Lichtdesign: Ansgar Kluge) in kaltem Weiß betont den grellen Ersteindruck. Im Raum verteilt befinden sich vier große, skurrile, mit Bauschaum verkleidete Skulpturen (Rauminstallation: David Rauer), die mich an fremdartige, erschöpfte Kuscheltiere erinnern. Drei Seiten des Saals sind mit einer Stuhlreihe versehen, auf denen verteilt zwischen dem Publikum die fünf Performer*innen sitzen. Kopf bis Fuß gekleidet in Denim mit gebleichten Batikelementen (Kostüm: Yvonne Wadewitz), erinnern auch sie irgendwie an eine andere Zeit. 

Alice Heyward tritt als Erste auf die Bühne. Überkopf, an die Wand gelehnt, streckt sie die Beine in die Luft und fügt dem Satzanfang “I was born” immer wieder neue Orte zu – “… in einem Hafen; … am Strand; … unter dem Küchentisch meiner Großmutter.” Hyunjin Kim begibt sich als Zweite auf die Bühne und führt das Spiel fort. Sie bewegt sich langsam durch den Raum. Es scheint, als würde sie einige der aufgelisteten Geburtsorte mit Bewegungen illustrieren. Sie streicht sich Sand vom Körper oder passt einen imaginären Ball von einem Fuß zum anderen. “Ich wurde auf einem Fußballfeld geboren.” Petr Hastik schließt sich Hyunjin Kim an. Sie wiederholen nacheinander dieselben Sätze, führen ähnliche Bewegungen aus. Die unterschiedlichen Betonungen, Haltungen, Akzente und Körper setzen jedoch alles Gesagte in einen alternativen Kontext. Auch David Kummer und Frank Willens schließen sich dem Bühnengeschehen an und nennen weitere Orte möglicher Geburten. Das immer noch helle, klinische Licht lässt mich den Raum als absurden Kreißsaal betrachten, in dem mit jedem Satzanfang neue mögliche Geschichten geboren werden. Die Einleitungen weiten sich aus und sukzessiv schildern die Performer*innen biografische Erzählungen. Sie unterbrechen sich gegenseitig, hören und nicken einander zu. Je mehr sich die Geschichten auditiv im Raum überlagern, desto mehr spielen die Erzählenden mit Rhythmus und Tonhöhe, bis sie die Biografien im Stil von Bruce Springsteen durch den Raum singen. 

Ihr Gesang wird abgelöst durch sanfte elektronische Sounds (Musik: Carl-Noë Struck). Wie Planeten auf ihren eigenen Laufbahnen, die sich mal nähern, mal weit entfernen, bewegen sich die Tänzer*innen kreisend durch den Saal. Sie kommen zum Stillstand, reihen sich in einer Diagonale auf, ändern ihre Konstellation und drehen sich dann weiter im Raum verteilt um die eigene Achse. Man sieht manche wiederkehrende Bewegungsmotive, die ausgeführt von jeder Person anders wirken, und doch aneinander erinnern. Aus dem sanften Teilen von Bewegungen entsteht ein wilder Kleidertausch. Mehr und mehr Jeansteile werden übergestülpt und ausgewechselt, bis aus den Bauschaumskulpturen bunte, längliche Stoffkissen, aneinander gekettet wie Lebensabschnitte, herausgezogen werden. Auch diese werden Teil des Überstülpens und Stapelns. Ist es das Ziel, eigene Erinnerungen den Mitmenschen aufzudrücken, um sie selbst nicht tragen zu müssen? Teilen sie die eigenen Geschichten, um einander näher zu kommen? Was passiert mit dem Wissen über die Biografien der Anderen? Diese Fragen toben am Ende durch meine Gedanken und spiegeln das bunte Chaos, in dem die Bühne nach 70 Minuten verbleibt. 


„Bioswop“ des Performancekollektivs SEE! (SE Struck und Alexandra Knieps) wurde am 4./5. November 2022 im Ballhaus Ost aufgeführt – von und mit Petr Hastik, Alice Heyward, Anca Human, Hyunjin Kim, David Kummer, Frank Willens.