„One Next To Me“, Milla Koistinen ©Jan Isaak Voges

Macht und Ohnmacht – ein Gesellschaftsspiel

Im Rahmen vom FEMINIST FUTURES FESTIVAL (2.-6.11.2022 in der Tanzfabrik Berlin) schafft Milla Koistinen mit „One Next To Me“ eine spielerische Versuchsanordnung, die offen ist für die Ambivalenzen im Verhältnis zwischen Individuum und Massenkollektiv.

„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. […] Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden kann.“ Mit dieser Überlegung eröffnet Elias Canetti seine Untersuchung Masse und Macht an der er, geprägt von seinen Erfahrungen mit revolutionären Massenbewegungen in der Weimarer Republik und deren gewalttätigen Niederschlagung, mehr als dreißig Jahre, bis 1960, gearbeitet hat. Aber anders als die Mehrzahl der Autoren des 20. Jahrhunderts, anders als Sigmund Freud oder vor ihm Gustav Le Bon, versteht Canetti Massenbewegungen weniger als irrational und verwerflich oder als regressiv im Sinn einer Identifizierung mit einer väterlichen Führerfigur, sondern arbeitet die komplexen Ambivalenzen – und damit auch Chancen – von Massenbildungen heraus. Ihm geht es eher um das schöpferische Potential, das die Verwandlung des Individuums, seine Ich-Auflösung in der Masse ermöglicht.  

Milla Koistinens Performance „One Next To Me“ beginnt casual: scheinbar formlos, beiläufig, alltäglich. Eine gemischte Gruppe von sechzehn Kindern, Teenagern, Erwachsenen und älteren Menschen, manche professionelle Tänzer*innen, manche Laien, sitzen und stehen locker verteilt im Bühnenbereich, als wir, das Publikum, das Studio 14 der Uferstudios betreten. Warm und einladend umhüllt mich der Sound von Paul Valikoski. Auf der Bühne wird hier und dort gemächlich geplaudert, zwei Kinder spielen Schere-Stein-Papier, während immer mal jemand abseitssteht und dem Bühnengeschehen zuschaut – Alltagsszenen, die wiederholt und fast unmerklich, zu Tableaux vivants, zu „lebenden Bildern“, einfrieren, um sich erneut in andere Konstellationen zu verwandeln, und die nach und nach vom Alltäglichen ins Poetische hinüberwechseln.

Ein klarer Lichtcut ändert die Stimmung. Scheinbar zärtliche Umarmungen verwandeln sich wie von selbst und grundlos in übergriffige Gewalt: Körper, die, bewusstlos geworden, sich der Willkür Anderer ausliefern; Körper, die miteinander rangeln, aneinander zerren – und sich wieder umarmen. Behutsame Berührungen, die, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen, blitzschnell umschlagen können in Brutalität und Kontrollverlust. Jede Begegnung birgt beides: das Potential für Zärtlichkeit sowie für Gewalt. „One Next To Me“ geht genau diesem undurchschaubaren Wechselspiel zwischen Hingabe und Unterwerfung, zwischen Empathie und Aggressivität nach, die jeder Beziehung, der zu uns selbst, ebenso wie der zwischen Individuum und Massenkollektiv, inhärent zu sein scheint. 

Anstatt aber eine uns allen vertraute Sehnsucht nach Geborgenheit im Kollektiv zu idealisieren, oder im Gegenteil das Versinken, die Ich-Auflösung in der Masse zu verdammen, treten in Milla Koistinens Performance die feinen Nuancen, die in dieser Beziehung enthalten sind, in den Vordergrund. Das Bewegungsmaterial changiert zwischen Alltäglichem und Poetischem, zwischen Abstraktion und Figuration und bewirkt ein Ineinanderfließen, in dem die affektive Kommunikation des individuellen Körpers mit dem Kollektivkörper zum Vorschein kommt. Die sich wiederholenden Handgesten, die an politische Agitationsreden erinnern, und die Tableaux vivants, die sich im Laufe des Stückes zunehmend in Bilder heroischer Gruppenmonumente verwandeln, beziehen die konkrete Realität zwar ein, ohne aber diese Heroisierung des Kollektivs (oder der Nation, des Volks, des Führers etc.), dem sich die Einzelnen zu unterwerfen haben, zu affirmieren. Dabei macht die egalitäre Einbindung nicht-professioneller Darsteller*innen das Stück noch nahbarer: Ich habe gleichzeitig das Gefühl eine soziologische Versuchsanordnung zu beobachten, wie auch ihre unausweichliche Teilnehmerin zu sein.

Milla Koistinen ist eine von zwanzig Künstler*innen, die durch das europäische Netzwerk apap – advancing performing arts project im Rahmen ihres Programmes FEMINIST FUTURES über vier Jahre lang gefördert werden. Sie war neben Sergiu Matis und Agata Maszkiewicz auch gleichzeitig eine von drei Künstler*innen, die das Programm des Festivals mit erarbeitet hat, das in ähnlichen Versionen am Instytut Sztuk Performatywnych (InSzPer) in Warschau und in der SZENE Salzburg stattfinden wird – vor allem auch mit dem Anliegen, die institutionalisierte Zusammen-Arbeit selbstkritisch zu hinterfragen. Denn nicht nur auf künstlerischer Ebene werden feministische Themen verhandelt, sondern diese sollen vor allem auf struktureller Ebene praktisch erprobt werden. Das Festival selbst wird sein eigenes selbstkritisches Forschungsfeld – und das allein wäre nun einen weiteren Text wert 🙋🏻…


„One Next To Me“ von Milla Koistinen ist noch heute, am Sonntag, den 6. November 2022 um 16.00 Uhr und um 19.00 Uhr in der Tanzfabrik Berlin/Wedding zu sehen, Tickets unter tanzfabrik-berlin.de.

Das FEMINIST FUTURES FESTIVAL (2.-6.11.2022 in den Uferstudios Berlin) ist ein Projekt des europäischen Netzwerks apap – FEMINIST FUTURES und zeigt Arbeiten von Ana Dubljević, Milla Koistinen, Harun Morrison, Sonya Lindfors, Sergiu Matis, Selma Selman, Isabell Spengler, Antonia Baehr, Jule Flierl.