Anna Natt untersucht in “Queering Nosferatu” die Symbolik der Vampirfigur, zu sehen in den Sophiensælen vom 27. bis 30. Oktober 2022.
“Queering Nosferatu” beginnt im Dunkeln. Ein von Hand geführter Scheinwerfer auf Rollen lenkt meinen Blick durch den Raum. Der Lichtspot (Lichtdesign: Loïc Iten) bewegt sich langsam von links nach rechts, an der Wand entlang nach oben über die Ballustrade zu den Stuckverziehrungen der Decke der Sophiensæle. Als das Licht wieder langsam nach unten gelenkt wird, kommt eine dunkle Figur zum Vorschein. Der Scheinwerfer folgt ihr wie eine Kamera und beleuchtet die zu Krallen geformten langen Finger mit spitzen Fingernägeln. Der Schatten, der an die Wand geworfen wird, erinnert an Szenen aus dem Film Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens von Friedrich Wilhelm Murnau, der im Jahr 1922 prämierte. Ein weiterer Film, den Anna Natt als Inspiration und Einfluss für diese Performance nennt, ist Werner Herzogs Nosferatu – Phantom der Nacht von 1979, der sich an der Version Murnaus orientierte. Die filmische Ästhetik, insbesondere die des expressionistischen Stummfilms, findet sich besonders am Anfang von “Queering Nosferatu” wieder. Während Anna Natts Vampirfigur auf einer sargähnlichen Konstruktion zur Ruhe kommt, stellt der auf die Leinwand projizierte Text (stilistisch auf die Zwischentitel im Stummfilm verweisend) sie als Nosferatu vor.
Begleitet von einer Orgelkomposition von Robert Curgenven, erscheint die Vampirfigur über uns ragend auf einer Videoprojektion (Videoinstallation: Dalia Castel). Mit weit aufgerissenen Augen präsentiert sie mal die spitzen Zähne und zeigt sich als Begehrende, mal streicht sie die langen dunklen Haare nach hinten, präsentiert ihren Hals und zeigt sich als Objekt der Begierde. Die ausdrucksstarke gestische Spielweise erinnert an die des Stummfilms.
Während die expressionistisch-filmische Ästhetik, teilweise sogar Camp-Stilistik stark zum Vorschein kommen, blieb für mich der Versuch des Queerings, der im Titel versprochen wird, zu oberflächlich.
Queering ist kurz für queer reading und steht für die Methode, dominante Interpretationen von kulturellem Material, wie zum Beispiel Texten und Filmen, infrage zu stellen. Stattdessen werden sie entgegen der Heteronormativität und Genderbinarität neu analysiert, um einen möglichen queeren Subtext sichtbar zu machen und eine alternative Lesart zu präsentieren.[1] Der Vampir als Figur, die immer wieder in Werken der Literatur, auf den Bühnen und auf der Leinwand auftritt, hat viele queere Interpretationen hervorgebracht. Der Vampir als der Ausgegrenzte und Unberührbare, der in seinem Verlangen die (Hetero-)Normativität stört und das Konzept der Zeit in Frage stellt.
Doch kann man von Queering sprechen, wenn die Begierden des Nosferatu nach Fleisch und Blut als Geschichte wiederholt werden? Reicht es aus, die Symbole und Metaphern der Vampirgeschichte im Jahr 2022 auf die Bühne zu bringen, um das Verständnis zu überarbeiten und den queeren Subtext auch für diejenigen lesbar zu machen, die ihn nicht ohnehin schon kennen?
„Queering Nosferatu“ von Anna Natt (Premiere: 27. Oktober 2022) ist bis zum 30. Oktober 2022 in den Sophiensælen zu sehen. Tickets unter sophiensaele.com.
[1] nach: Anna Babka, Susanne Hochreiter (2008). Queer Reading in den Philologien: Modelle und Anwendungen. Wien: V&R Unipress.