„Kopfschmuck“, Camille Chapon © Camille Chapon

Ohne Regeln

NAHDRAN bietet als lang angelegte Performance-Reihe Raum zum Experimentieren. Das Format featuret zahlreiche entstehende Arbeiten und ermutigt mit unverfälschter Offenheit junge Künstler, den Sprung zu wagen und ihre Ideen öffentlich zu zeigen.

In einer Welt, in der wir ständig online sind und kurz davor, in Informationen unterzugehen, bietet Clara Birnbaum Pantzerhielm einen erfrischenden Kontrapunkt. „SWIM (part 2)“ ist ein temporärer zufluchtschenkender Slow-Motion-Ort: Eine fluoreszierende Decke, weich und glitschig, markiert ein Rechteck auf dem Boden, während ein weiblicher Körper verführerisch und katzenhaft dessen Seiten abschleicht. Ihre Bewegungen sind dezent und kontrolliert und gleichzeitig interessant und anmutig. Der gelbe Schimmer des Stoffes tanzt auf ihrer Haut, als sie ihrem Tastsinn erlaubt, ihre Aktionen zu leiten. Sie wagt es, ihre Augen zu schließen. Sie wagt es, verletzlich zu sein. Während ich sie beobachte, frage ich mich, wie ihr meditativer geistiger Zustand die Leute beeinflusst, die ihr zusehen. Sie rollt Wirbel für Wirbel nach oben, bis ihr Rücken gerade ist und sie aufrecht steht. Ihre Arme schaukeln zu beiden Seiten. Es macht den Eindruck, als befände sie sich in einer sanften Trance – aber kann sie dieses Gefühl auch auf ihr Publikum ausdehnen?

Für „Kopfschmuck“, das zweite Stück des Abends, stattet Camille Chapon den Raum mit einer merkwürdigen Zusammenstellung verschiedenster Objekte aus: Ein Smoking, über und über mit Farbe bespritzt, wird auf der Spitze dreier Stelzen aufgestellt; ein anderer Smoking balanciert eigenmächtig auf dem Boden; drei Spielzeuge ragen aus einem überlaufenden Rucksack und werden dann vorsichtig am vorderen Bühnenrand aufgestellt. Chapon erweist sich als Hybrid seltsamster Natur. Im Kostüm eines Zauberers improvisiert er wie ein zeitgenössischer Tänzer, jedoch mit der Frechheit eines Cabaretkünstlers. Mit dem Rücken bewegt er sich langsam, spannungsgeladen und aufmerksam auf das Publikum zu – dreht sich ohne Vorwarnung um und schießt einen imaginären Pfeil in den Zuschauerraum – Volltreffer! Völlig überrascht hält das Publikum hörbar den Atem an. Er ist ungeheuer unvorhersagbar: Bringt sich in einem Warnanzug in Sicherheit oder entblößt seinen nackten Torso, um sich dann in ein Tier zu transformieren. Ich fühle mich irgendwie benommen und frage mich: Gibt es eine innere Logik in seinen Verwandlungen?

Die von Dorota Michalak konzipierte Improvisation „Doing things in front of the others“ kommt organisch in Fluss. Ein Performer sitzt im vorderen Bühnenbereich auf einem Stuhl und spielt ein Tamburello mit Bewegungen, die fast der Wahrnehmung entgehen. Als würde das Instrument selbst die Töne von sich geben. Eine andere Performerin ist an einem Schreibtisch positioniert und malt mit schwarzen und roten Stiften, deren Ergebnisse zeitgleich auf die hintere Wand projiziert werden. Davon hebt sich die Silhouette der dritten Performerin ab, deren Bewegungen durch ihren Schatten vergrößert werden. Alle drei Performer*innen sind im gegenwärtigen Moment und scheinen frei ihren Impulsen folgen zu können, wobei die Initiierungen wichtiger sind als das Fokussieren von Zielen. Mit einem bewundernswerten kompositorischen Risiko begeben sich die drei in einen erhöhten performativen Wahrnehmungszustand, in dem sich interessante Parallelen ergeben. Doch die Beziehung zwischen den Performenden, wie ihre jeweiligen Bereiche, ist noch undefiniert. Ich frage mich – was würde passieren, wenn sich ihre Blicke träfen?

Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski