„Shared Paractices“, Yasmeen Godder © Thomas Kunz

Von singenden Sirenen und der Komplexität in der Einfachheit

Yasmeen Godder und die Studierenden des Masters Tanzwissenschaft zeigen mit „Simple Action – Shared Practices“ in der Akademie der Künste, woran sie im Rahmen der Valeska-Gert-Gastprofessur gemeinsam geforscht haben und welche Bedeutung die Praxis in einem Studiengang wie der Tanzwissenschaft hat.

Auf Socken, ohne Mäntel und sperrige Taschen betreten wir den Clubraum im Erdgeschoss der Akademie der Künste am Hanseatenweg. Die Aufforderung, unsere Schuhe vor dem Hineingehen abzugeben und der Ankündigungstext auf der Website lassen auf ein partizipatives Format schließen. Das Publikum soll hier etwas mehr und etwas anderes mitnehmen als es ihm in Performances ohne Aufhebung der vierten Wand, in vorgeschriebenem Abstand zu den Performenden, ermöglicht wird. Erfahrung von Nähe und Distanz, überraschendes Einbezogen Werden, sich stärker übertragende Emotionen, ein sinnlicheres Erleben. Nicht nur geteilte Praxis, sondern auch eine Praxis des Teilens.

Auch heute Abend lässt sich eine leichte Spannung und unsichere bis freudige Erwartungshaltung bei den Zuschauenden spüren, obwohl oder gerade weil das Publikum vorwiegend aus Insidern besteht: Tanzwissenschaftler*innen schauen (angehenden) Tanzwissenschaftlerinnen dabei zu, woran sie mit Yasmeen Godder in den vergangenen vier Wochen gearbeitet haben.

Die Valeska-Gert-Gastprofessur besteht seit 2006 als Kooperation zwischen der Akademie der Künste, dem Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Valeska Gert zählte in den 1920er-Jahren zu den wichtigsten Tänzerinnen der Avantgarde und gilt heute neben Mary Wigman und Niddy Impekoven als eine der herausragenden Tänzerinnen ihrer Zeit.

Jedes Semester wird ein*e Tanz- oder Performance-Künstler*in eingeladen, zusammen mit den Studierenden der Tanzwissenschaft künstlerisch zu arbeiten. Zu Semesteranfang findet ein Vortrag und Gespräch statt, um den Arbeitsansatz der Gastprofessur vorzustellen und einen Blick auf die künstlerischen Arbeiten zu werfen. Eine Abschlusspräsentation und ein sich anschließendes Gespräch schließt den Rechercheprozess ab. Bisher hatten die Studierenden der Tanzwissenschaft die Möglichkeit mit den Big Names der Tanz- und Performanceszene wie u.a. Mette Ingvartsen, Meg Stuart, Deborah Hay, Xavier Le Roy und – ganz zu Anfang – mit Amos Hetz zusammen zu arbeiten.

Doch was bedeutet eigentlich Research im Rahmen der Valeska-Gert-Gastprofessur im Studium der Tanzwissenschaft? Wenn wir über Bewegung forschen, passiert das zum großen Teil durch Textlektüre, Bild- und Videomaterial sichten, darüber schreiben und diskutieren. Doch man kann auch physisch recherchieren und Bewegungen im Vollzug erforschen. In der Recherchearbeit mit Yasmeen Godder geht es um ein gegenseitiges Teilen von Praxis. Das meint zum Beispiel eine tägliche Bewegungsroutine, Arten mit dem Körper zu denken und zu forschen und zunehmend auch Spielarten künstlerischer Forschung, die akademische und physisch-künstlerische Praktiken zusammen denken.  

Die israelische Choreografin Yasmeen Godder hat im Prozess ihre eigenen Praktiken zum Ausprobieren angeboten, genauso wie die Studierenden eingeladen waren, ihre individuellen Routinen mitzubringen. Yasmeen Godder wurde 1973 in Jerusalem geboren, verbrachte ihre Jugend aber in New York, wo sie an der dortigen Tisch School of the Arts Tanz studierte und in der Punkszene zu Hause war. Später kehrte sie nach Israel zurück und hat seit 2007 ein eigenes Studio in Tel Aviv.

Yasmeen Godder war interessiert daran, ihre vorangehenden und aktuellen Research-Prozesse besser zu verstehen und daran weiter zu forschen, ohne den Teilnehmenden Vorgaben zu machen. Vielmehr ging es darum, zu entdecken, was schon da ist, in die Körper eingeschrieben, was jede Einzelne mitbringt, nicht nur an Bewegungsmaterial, sondern auch in Bezug auf Emotionen, Gedanken und Interpretationen. Wie können wir uns selbst in einer Praxis wiederfinden, ohne dass uns etwas übergestülpt wird?

Das Publikum läuft durch zwei L-förmige Räume bzw. Gänge. Ein Raum ist rot illuminiert, der andere Gang in ein grünes Licht getaucht, der zur linken Seite den Blick auf eine Art Pflanzen-Terrarium im Außenbereich der Akademie der Künste am Hanseatenweg freigibt. Es macht einen Unterschied, dass wir keine Schuhe anhaben. Ich hätte sonst nicht die Temperaturunterschiede und die verschiedenen Texturen des kalten Steinfußbodens im Vergleich zum Teppichboden gespürt.

Die Performance beginnt, als ob wir in ein intimes, feministisches Ritual hineingeraten wären. Anfangs bleiben die Performerinnen unter sich und liegen jeweils zu fünft mit den Köpfen dicht beieinander in zwei sternförmigem Kreisen am Boden. Ein zunächst unverständliches Stimmenwirrwarr, Gesänge und Wortfetzen tauchen den Raum in eine aufgeladene und mystische Atmosphäre. Die sirenenhaften, fast sakralen Stimmen und Gesänge sind unbewusst zu einem Rahmen für die Performance geworden.

Im Gespräch im Anschluss an die Performance zusammen mit Yasmeen Godder, den Studierenden, Prof. Dr. Gabriele Brandstetter und dem Publikum wird deutlich, dass sich weder Yasmeen Godder noch die Studierenden erinnern können, wie es eigentlich dazu kam, dass die Verwendung der Stimme so zentral wurde. Die Choreographin erzählt, dass Stimmtraining heute immer mehr zu ihrer künstlerischen Praxis geworden ist; sie erst in ihrer jüngsten Produktion „Demonstrate Restraint“ mit einer Sängerin gearbeitet und performt hat. Vielleicht – so ergänzt Yasmeen Godder – hängt es damit zusammen, dass sie sich selbst als Tänzerin oft verstummt gefühlt hat, sie ihrer Stimme keinen freien Ausdruck erlauben durfte. Beim Schreiben dieses Textes summen und schwirren mir immer noch die obertonähnlichen Soundteppiche im Kopf umher – und die wenigen, stets wiederholten Wörter „I want, I need, I fear“: eine Übung zur Arbeit mit Instinkten, wie Yasmeen im Gespräch erzählt. Es gibt unzählige rhythmische Variationen dieser ausgewählten Wörter, die in der Wiederholung und in immer neuen Modulationen dem räumlichen Erfahrungsraum mehr und mehr Tiefe und Volumen verleihen. Der Raum der Performance wird vor allem durch die vielen Ebenen der Stimmlichkeiten getragen, die sich wie bunte, aber auch düstere Teppiche übereinander stapeln.

Ein seitliches am Boden liegendes Einrollen in die Embryostellung geht fließend in ein halbes Aufrichten zwischen Liegen und Sitzen über, während die Performerinnen sich kontinuierlich an den Händen halten. Viele Wiederholungen, mit variiertem Timing, zeigen wie viel Detailbewusstsein in jedem Bewegungsmoment steckt. Die Bewegungsmuster in den Kreisformationen sind auf den ersten Blick physisch simpel. Es geht hier nicht um ein Ausstellen von Virtuosität; ebenso wenig, wie um einen sich immer neu überbietenden Einfallsreichtum noch nicht gesehener Bewegungen. Vielmehr wird dem Wie in der Bewegung nachgegangen. Wie eine Bewegung ausgeführt werden kann, wie viel Zeit ich mir als Performerin für einen kleinen Bewegungsausschnitt nehme, wie viel Muskelanspannung aufgewendet wird, ob eine zärtliche Intention oder eine wütende Geste der Bewegung Inhalt verleiht. All das sind Fragen, auf die man in dieser Form des physischen Forschens nach Antworten sucht. 

Durch die Wiederholung und ein spezifisches Bewusstsein für jede einzelne Mikrobewegung bekommt die simple Choreographie in „Simple Action – Shared Practices“ eine Tiefe und immersive Kraft, die uns in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, aus dem einige Zuschauer*innen überraschend aufgeweckt werden, indem sie sehr behutsam und kollektiv von einem ganzen Performerinnen-Quintett an einen anderen Ort im Raum getragen und sanft abgesetzt werden. Andere Zuschauer*innen werden eingeladen, die Hand einer Performerin zu halten und eine ganze Weile lang still nebeneinander auf dem Boden zu sitzen.

Das Publikum ist den Performerinnen während den gesamten fünfzig Minuten nicht nur körperlich und räumlich näher – auch emotional scheint sich eine Verbindung aufgebaut zu haben, selbst wenn jede*r Einzelne individuelle Geschichten und Bilder damit verbindet. Gerade in den stillen, simplen Momenten in denen sich nur zwei Hände gegenseitig berühren, scheint die Energie zwischen Performerin und Zuschauer*in wie im Inneren gehalten zu sein, als könnte sie jeden Moment übersprudeln und etwas aufbrechen.

Es hat etwas Geheimnisvolles, dass man von manchen Aufforderungen oder Einladungen nur erfährt, wenn man selbst Teil davon wird. Ich erlebe eine kurze Sequenz aus einer traditionellen koreanischen Hochzeitszeremonie mit einer Performerin und drei weiteren Zuschauer*innen, die im Rotationsprinzip von den drei weiblichen Teilnehmenden in allen Rollen ausprobiert wird, während „der Bräutigam“, vor dem wir uns verbeugen, in seinem Sitz verharrt. Andere Zuschauer*innen erhalten das Angebot, zu lernen wie man (die) Haare (einer Performerin) flechtet oder sich ein Gedicht erzählen zu lassen. Jedem Vorschlag geht eine leise Frage voraus, die sich nach dem Einverständnis erkundigt. Im Abschlussgespräch formulierte der künstlerische Leiter der Potsdamer Tanztage, Sven Till, seinen Eindruck der Performance – mit dem viele resonierten – als ein Gefühl, „umarmt zu werden, bevor es überhaupt zur Berührung kommt“.