„Memory Of Dislocation – Exactly the Same in the Opposite Direction“, Jao Moon ©Wagner Carvalho

Nähren, Widerstand leisten, sich selbst zurückgewinnen

Oben auf der Galerie des Ballhauses Naunynstraße durchdringt der kolumbianische Performer und Choreograf Jao Moon in seinem Solo „Memory of Dislocation – Exactly the Same in the Opposite Direction“ (7.–10. Dezember) gekonnt Identitäten, Grenzen, Erinnerungen und Ästhetiken.

Der Technobeat wird zunehmend lauter als ich die Treppen hinaufsteige, einen engen Korridor entlanglaufe und in ein Schwarz eintrete, das gebrochen ist von starkem Stroboskoplicht. Die Performance zu betreten fühlt sich genauso an als würde man einen Klub betreten, sodass ich sogar überrascht bin, nur eine Peron in einem Scheinwerferlicht tanzen zu sehen. Habe ich mir unterbewusst einen Raum vorgestellt, der voller sich windender, schwitzender Körper ist? Ich schalte schnell vom Klubmodus in den Performancemodus (die Knöpfe liegen sehr nah beieinander), während ich mich mit dem flackernden Stroboskoplicht arrangiere. In der Mitte des Raums befindet sich Jao Moon in einem weißen Trainingsanzug, seine Füße geerdet am Boden und seine Arme vor sich ausgestreckt, während sein Körper zum Rhythmus rockt; er tanzt in diesem nahezu meditativen Stil, wie jemand, der den Dancefloor so schnell nicht mehr verlassen wird.

Vor der Performance wurde uns gesagt, dass wir uns frei im Raum bewegen können. Also gehe ich ein paar Schritte näher heran, die Gelegenheit ergreifend, wirklich mal jemanden genau zu betrachten, der in Stroboskoplicht tanzt. Ich starre lang und angestrengt auf die Art und Weise, in der die brutalen obgleich kurzen Lichtstöße seinen Körper und seine Bewegungen zerhäckseln. Das Stroboskoplicht lässt seinen Körper flach und zweidimensional aussehen, und fast abwesend – zur Hälfte anwesend – als ob die andere anderswo wäre. Nach einer Weile beginnt er beinahe auszusehen wie ein Hologramm. Ich bin versunken in mein Nachdenken über das Titelwort ‚dislocation‘ und gerade als es interessant wird, hören Flackern und Musik auf.

Was? Nein! Jetzt schon?! In dieser plötzlich eingetretenen Stille läuft Moon durch den nicht sehr großen Raum, auf eine Wand und eine Art Metallrahmeninstallation mit fluoreszierenden Lichtern zu. Die hohe Tanzklub-Performativität wird zu etwas Weltlicherem, als er die Neonröhren der Reihe nach einschaltet, während er vorsichtig um und durch die Rahmen klettert. Moons Verhandlung mit diesem festen Gerüst respektive durch dieses verwandelt sich allmählich in eine Verhandlung mit dem respektive durch das Publikum, als er den Raum wieder durchquert, durch uns hindurchtanzt, uns mit seinem neugierigen Blick fixiert, der sanft konfrontierend ist und nahezu flirtend. Seine Bewegungen lassen mich an das schöne Kind denken, das Vogue- und Butohtanz erschaffen könnten.

Diese Sequenz ist die erste einer Reihe sorgfältig gemachter Studien, in denen Moon ein Zusammenspiel aus Licht, Bewegung, Story und Gestik verwendet, um den Modus anzusprechen, in dem der Körper nicht starr ist, sondern sich beständig verändert, simultan auf seine Umgebung reagiert und diese erschafft. Seine Verwendung von Raum und Beleuchtung ist einfach, doch unglaublich effektiv. Durch dieses Stück hindurch ent- wie verhüllt er verschiedene Teile des Raums entsprechend der Erzählung, die er über Grenzen und die Fähigkeit des Körpers, diese zu überwinden, webt.

In dieser sich verändernden Landschaft bleibt Moons Körper das Kernelement, das meine Aufmerksamkeit festhält und unseren Blick mit seinem lenkt. Seine Arme und Hände rufen gekonnt eine Unzahl an Assoziationen auf – die gewaltsame Haltung einer bestimmten Sorte Maskulinität und die Art und Weise wie eine Pistole gehalten wird, mit dem filmischen Neigen des Kopfes – aber dann glimmern diese selben Hände, und werden zu den heiligen Gesten von Maria, Jesus und der ganzen Gang katholischer Ikonen. Im nächsten Moment beschleunigen diese heiligen Posen und verwandeln sich in eine Divine Queen, die auf dem Dancefloor um ihr Leben voguet. Moon nähert sich diesen Themen nuanciert und mutig, verfeinert durch seine einzigartige Performancequalität. Mir blieb nur zu wünschen übrig, dass er dem ganzen mehr Zeit eingeräumt hätte, mehr Fragen gestellt hätte, mehr vertraut hätte, und bei jeder Szene länger verweilt wäre. Diese Bilder, die er geschaffen hat, waren stark, aber allzu oft kamen sie gefühlt zu kurz. Kaum hatte ich die Möglichkeit, mich in das Stück zu vertiefen, war es zu Ende. Es dauerte nicht länger als 35 Minuten.

Das Stück begleitet mich noch auf dem Weg nach Hause und ich lese das Programm und die Hinweise auf die ‚kolumbianische Champeta‘ noch einmal. Während ich auf meinem Handy den zu kurzen Wikipedia-Eintrag über diesen Musik- und Tanzstil lese, der mit der Verschleppung versklavter Völker aus Afrika an die kolumbianische Atlantikküste entstand, stelle ich mir eine verkörperte Praxis des Nährens, Widerstandleistens und Sich-selbst-Zurückgewinnens vor. Diese politische Haltung klingt in Jao Moons Arbeit wider. Ich reflektiere über seine Frage, die im Programmheft steht: Kann ‚sein Körper ein Raum werden, in dem sich all diese Grenzen auflösen‘? Wenn ich daran denke, wie ich Moons Arbeit im ersten Moment begegnete, mich in einem Berliner Klub wiederfindend, und jetzt auf dem Heimweg Champeta höre, fühle ich mich überzeugt, dass die Antwort lautet: ‚Ja‘.


Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski