„On HeLa – The Colour Of Cells“, Company Christoph Winkler ©Dieter Hartwig

Die Last des Aufklärungswunsches

„On HeLa – The Colour of Cells“, das neue Stück von Christoph Winkler, dessen Premiere am 12. Dezember im Ballhaus Ost war, erzählt zwei persönliche Geschichten, die die gesellschaftspolitische Bedeutung von Krebs beleuchten. Kein Aspekt des wichtigen Stoffs bleibt unerwähnt; das eigene Verantwortungsgefühl belastet das dokumentarische Tanzstück.

Bei den Erzählungen über Krebs ist es mehr als eine kreative Entscheidung, in welcher Person und aus welcher Nähe das im eigenen Leib Geschehene mit der Welt da draußen geteilt wird. Eine Welt, die so viel Angst, aber auch so viele Profitgedanken hat, um aus einem körperlichen Vorgang eine Geschichte der Eigenverantwortung zu schaffen. Entweder eine Heldenreise oder eine Selbstschuld-Tragödie.  In ihrem Essay “Krankheit als Metapher”, der 1977 erschien, war Susan Sontag darauf bedacht, “Ich” und “Krebs” nicht im selben Satz zu benutzen. Einige Jahrzehnte später gibt es immer mehr persönliche Erzählungen über Krebserfahrungen, die die Stigmatisierung politisch bekämpfen, ohne auf das Ich zu verzichten. Trotzdem formen die Erzählungen über individuelle Siege oder Niederlagen das kollektive Bewusstsein über die Krankheit. Zumindest in Medien und autobiographischen Werken. In nonverbaler Kunst hat diese Singularisierung des Krebses noch nicht mal eine Form, stattdessen gibt es eine Leerstelle.

Wenn Christoph Winkler sich als Choreograf mit der eigenen Krebserfahrung auseinandersetzt, begibt er sich auf ein emotional und gesellschaftspolitisch sehr aufgeladenes Feld, das künstlerisch noch nicht viel erforscht wurde. Und das macht er in der Rolle eines gebildeten weißen Mannes, der in einem Land ohne absolute Armut Zugang zur Behandlung hat und sich seinen Privilegien bewusst ist. Jede Entscheidung bei “On HeLa – The Colour of Cells” scheint von diesem Bewusstsein und dem Verantwortungsgefühl geprägt zu sein. Winkler erzählt eine persönliche Geschichte, aber weniger seine. Er stellt seine Erfahrungen denen von Henrietta Lacks gegenüber, deren Gebärmutterhalskrebs für die Kultivierung der ersten unsterblichen menschlichen Zelllinie verantwortlich war. Ohne ihre Erlaubnis und ihr Wissen wurden Lacks ihre Zellen entnommen, die heute als HeLa-Zellen eine immense Bedeutung für die Medizin haben. Die Afroamerikanerin aus armen Verhältnissen ist 1951 gestorben, ohne von den Forschungen anhand ihrer Zellen zu profitieren. Kaum jemand kannte ihren Namen, bevor 2011 das Buch von Rebecca Skloot, “The Immortal Life of Henrietta Lacks” veröffentlicht wurde.

Ein Grossteil des Stückes ist ein Vortrag, auch wenn nicht im klassischen Sinne. Es handelt sich um Fakten, Daten, Zitate und Medienaufnahmen. Um Rassismus, Diskriminierung, Medizinethik, Achtsamkeitsindustrie und Doppelmoral in Medien. Um Lacks und Winkler, Nixon und Oprah, die persönlichen Erfahrungen mit Krebs und ihre kollektive Bedeutung. Es scheint so, als ob Winkler keinen einzigen Aspekt außer Acht lassen und viel aufklären will. Es ist zu spüren, wieviel ihm an diesem Thema liegt, geht aber auch mit einer belastenden Aufklärungspflicht einher, die am Ende wundern lässt, warum er sich für ein Performance-Format entschieden hat. Lois Alexander verkörpert dabei alles. Sie ist die Botschafterin, Erzählerin, Tänzerin, Spoken-Word-Dichterin. In dem kühlen Raum mit weißen Würfeln, Mikros und einem Mikroskop wechselt sie ständig ihren Standort und ihre Rolle. Und sie tanzt zwischen den Teilen, fängt plötzlich an und hört plötzlich auf, und erzählt weiter.

Das persönliche Leid mit Krebs macht es oft schwierig oder unmöglich, die Werke darüber in ihrer eigenen Logik zu betrachten. Die Form fällt der Schwere des Inhalts zum Opfer. “On HeLa” behandelt den empfindlichen Stoff nicht mit Schwere. Wie Lois Alexander tanzt, erinnert an eine Aussage von Autorin Anne Boyer in ihrem vor kurzem erschienenen Memoire “The Undying”. Boyer erzählt von dem blendenden Kontrast zwischen der Zerstörung durch Chemo und dem zarten Bild ihres Tumors, das sie zum ersten Mal auf einem leuchtenden Bildschirm sah. Bei “On HeLa” stehen die Bilder von Zellen auf der Leinwand, farbig und stets in Bewegung, in Kontrast zu dem schwarz-weißen Raum. Diese Zellen erinnern an Leben und nicht an Tod. So ist auch der Tanz von Alexander. Unter Spannung, energiegeladen, extrovertiert, rhythmisch. Nicht nach innen guckend oder in einen Abgrund. Mit den großen Gesten ihrer Arme nimmt sie viel Raum ein in der Welt, sie nimmt mit ihr Kontakt auf. Wie sie ihre Hand auf- und zumacht, ist wie das Pochen eines Herzens oder das Vibrieren einer Zelle. Wir hören, dass auch Henriette Lacks gerne getanzt hat, zu Musik von einer Jukebox.

Der Tanz bedeutet vielleicht, dass Winkler auf die Form nicht verzichtet oder auf das Leben. Und er ist voller Kraft. Trotzdem wirkt weder Tanzen noch Dichten wie eine dringliche Komponente des Ganzen, sondern eher als Übergangsfragmente zwischen unterschiedlichen Teilen des Stücks. Denn es ist nicht einfach nachzuvollziehen, was genau in den einzelnen Momenten die Bewegungen oder die Gedichte veranlasst, wo die Verbindung zwischen Kunst und Information ist. Es ist insgesamt schwierig, in der Fülle der Informationen das Stück als ein integriertes Ganzes zu erleben oder sich zu orientieren. Sind wir als Zuschauende Zuhörer*innen einer Recherchearbeit oder Teil einer Erfahrung künstlerischer oder politischer Natur? Winkler zitiert beim Stück die Choreografin Anna Halprin, die sagt, dass sie vor dem Krebs für die Kunst lebte und jetzt die Kunst für ihr Leben nutzt. Winkler gefällt diese Einstellung. “On HeLa” verrät uns aber eher die Gedanken von Winkler über die gesellschaftlichen Aspekte von Krebs und weniger, was das für seine künstlerische Sprache bedeutet.