Der Berliner Choreograf Sebastian Matthias gastiert im Rahmen des Projekts explore dance mit seinem ersten Stück für Jugendliche an der fabrik Potsdam. Das ist nicht ganz ohne, denn es geht um das Thema Sex. Der wiederum verkauft sich bekanntermaßen gut, besonders im Internet.
Die öffentliche Diskussion zum Thema „Jugendsexualität im Internetzeitalter“ ist erregt – Schlagworte wie „Generation Porno“ und „Generation Lustlos“ bestimmen den Diskurs. Doch mal abgesehen davon, ob die Jugend nun angeblich verroht oder verklemmt ist – können Heranwachsende tatsächlich nicht zwischen ihren realen und virtuellen sexuellen Welten unterscheiden? Doch sie können, wie eine gleichnamige Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung belegt: „(…) sie wollen die eine nicht durch die andere ersetzen. Sie übernehmen aus dem konsumierten pornografischen Material solche sexuellen Fertigkeiten und Variationen, die zu ihren sexuellen Wünschen passen.“
„XOXO“ von Sebastian Matthias bietet einen Anreiz, das eigene Begehren, die Grenzen von Intimität sowie auch die Wirkkraft von medialen Bildern auf Denken und Verhalten zu reflektieren. Die Performance vereint Tanz, Musik, Sprache und Bildende Kunst. Diese erste Produktion des Berliner Choreografen für Jugendliche (ab 14 Jahren) rückt dem Konsumverhalten des Publikums, in besagtem Themenrahmen, kritisch auf die Pelle. Im November feierte das Stück auf Kampnagel in Hamburg seine Premiere, Anfang Dezember nun gastierte es an der fabrik Potsdam.
Total normal oder voll krass?
Auf dem Weg zum Zuschauerraum muss das Publikum an einer kleinen Ausstellung vorbei. Auf zwei L-förmig angeordneten Verkaufstischen stehen allerhand Gegenstände, die die Fantasie und die Neugierde der Betrachtenden anregen: ein zielstrebig gen Himmel ragender Kaktus – eine Leselupe, unter der eine Miniaturbotschaft liegt – eine Bohrmaschine mit einer rotierenden Feder vorne dran – ein silberner Ball, in dem ein Messer steckt, auch ein wackelig anmutender Turm aus Porzellantassen sowie zwei sich innig umarmende Stoffmäuse.
Das kitschig bis kunstvolle Sammelsurium erinnert in seiner sinnlich-munteren Form- und Farbgebung an das Buch „1000 Extra/Ordinary Objects“ des italienischen Benetton-Fotografen Olivieri Toscani, aber es soll Fragen provozieren. Fragen, nach welchen Maßstäben wir Zuordnungen treffen: Was ist gewöhnlich/normal, was außergewöhnlich? Wo sehen wir hier das Objekt an sich oder schon Parallelen zu Sexspielzeug? Wo die Ware, wo das Kunstobjekt? Mit dieser Ambivalenz von Bedeutung flirtet Sebastian Matthias. Das tut er dann innerhalb von 50 Minuten Aufführungsdauer beinahe eine Spur zu provokativ.
Kontroverse Angebote. Oder: Lasst Euch nicht für blöd verkaufen.
Das an diesem Abend vorwiegend erwachsene Publikum, das sich auf zwei Tribünen gegenübersitzt, bekommt zunächst einmal Kopfhörer ausgehändigt. Eigenmächtig soll es entscheiden, welche Szenen es wie nah an sich heranlässt. So kann es gleich zu Anfang einer Tänzerin dabei zuhören, wie sie ihrem Kollegen Erinnerungen an eine vergangene Liebesaffäre zuflüstert. „Wir waren so glücklich damals in Tel-Aviv“ sagt sie, dicht bei ihm stehend und schwer atmend. Und man weiß nicht genau, meint sie ihn oder erzählt sie von einer weiteren Person. Die wiederum könnte man auch selber sein, denn wenn man den Kopfhörer aufhat, kommt es einem beinahe so vor, als würde man selbst angesprochen werden. Das Begehren, das hier nicht explizit ausgesprochen wird, transportiert sich über den Atem – quasi wie in einem Subtext. Das ohrennahe Miterleben stellt uns dabei gleichsam als Konsumenten dieses Theaterprodukts zur Schau. Geboten bekommen die Zuschauenden in „XOXO“ bzw. „Küsse und Umarmungen“ – so die Übersetzung des Stücktitels im Chat – mehr als seine harmlose Verpackung vermuten lässt.
Denn wie die Objekte, die im Laufe der Performance wie zufällig bestimmten Szenen zugeordnet werden, nehmen auch die Tänzer*innen eine gewisse Authentizität in Anspruch – Identitäten und Realitäten werden hier als wahr suggeriert. So wahr wie in virtuellen Welten eben. Die Auswahl trifft – schließlich setzt dieses Stück auf Teilhabe – die*der jeweilige User*in. Die*der wiederrum wird mit allen Mittel der Verführungs- und Verunsicherungskunst an der eigenen Nase herumgeführt. Unter dem reißerischen Titel „Körper, die bluten“ etwa liest ein Tänzer während einer Szene eine Art Tagebucheintrag vor, der wie eine Drehbuchszene klingt: Eine gekonnt lückenhaft geschriebene Geschichte (Text: Mila Pavicevic), in der eine Protagonistin in Bikini auf einer Party einen Vollrausch erlebt, was von einer nicht näher beschriebenen Person sexuell ausgenutzt wird. Me too-Erfahrungen, die jede*r Jugendliche aus ihrem*seinem Umfeld kennt und die hier einmal ausgesprochen werden müssen? Wohl eher die Vorführung einer Erzählstrategie, die zeigt, wie gut unsere Gehirne als Effektmaschinen funktionieren und blinde Flecken in einem gegebenen Kontext mit einschlägigen Medien-Bildern füllen.
Was sich in dieser Poker-Show namens „Küsse und Umarmungen“ als zurückhaltend tarnt, hat bis zuletzt Biss. Wir haben das Produkt gekauft und dürfen etwas erwarten, nur eben nicht das vermeintlich Richtige. Wie gut, dass der Tänzer Enis Turan in einem Hand-zu-Knie-Zwiegespräch mit einer Zuschauerin zuvor den Begriff „Einwilligung“ definiert hat: Wer nicht einverstanden ist, kann schließlich auch aufstehen und gehen – vorausgesetzt natürlich, man steht über seiner Theatersozialisation. Das Ende des Stücks kommt etwas abrupt – im Raum steht die Frage nach selbstbestimmten Definitionen von Körper, jenseits des Sexuellen und Sensationellen: „Mein Körper ist alternd. Mein Körper ist Dunkelheit. Mein Körper hat Lust auf Süßigkeiten“, so die Vorschläge der Tänzer*innen. Der eigentliche Schluss folgt nach einer kurzen Pause: Zu einem beatlastigen und die Tanzlust weckenden Song mit dem Refrain „Sorry“ wandern die Kopfhörer zurück in einen Einkaufswagen, bevor wir – zugegeben, nicht mehr ganz nüchtern von der Performance – aus dem Saal gekehrt werden. Extra/ordinary!