Seinen Tanzschwerpunkt hat das Theater Thikwa in den letzten Jahren ausgeprägt. Was mit den Tanzabenden von Berliner Choreograph*innen begann, ist mittlerweile ein fester Programmbestandteil bei der Theatertruppe, die mit behinderten und nichtbehinderten Künstler*innen arbeitet. In „Aftershow“ nimmt Juli Reinartz den mit dem Tanzabend 4 gesponnenen Faden zu den Thikwas wieder auf.
Sie dancen schon, als wir Zuschauer*innen den Theatersaal betreten. Gemeinsam. Im orangefarbenen Licht, zu den Techno-Beats, die Patrik Patsy Lassbo kuratiert hat. Als Gruppe stehen sechs Thikwas, eine externe Tänzerin und die als Performerin eingesprungene Choreographin auf der Bühne des Kreuzberger F40, der Spielstätte des Theater Thikwa. Während sie einander körperlich beim Clubbing zugewandt sind, strebt die Aufmerksamkeit doch auch uns entgegen: Wer wohl im Publikum sitzt? Keine vierte Wand, keine vorgetäuschte Abkapselung oder versunkene Innerlichkeit der Performer*innen, sondern eine tatsächlich gelebte Ko-Präsenz. Das so oft beschworene Wunder des Theaters, die gemeinsame Anwesenheit, der Fokus auf das Hier und Jetzt wird fühlbar: Gegenseitig ist die Neugier an diesem Abend. Wir sehen den Thikwas zu, und die Thikwas beobachten uns beim Zusehen. Manche aus dem Augenwinkel, schüchtern. Andere schauen ihrem Gegenüber direkt in die Augen. Ungewohnt ist das. Und beglückend.
„Aftershow“ ist aber weder ein soziologischer Versuchsaufbau noch ein partizipatives Immersions-Experiment: Es ist das neueste, durch und durch physische Bühnenstück der Thikwa-Theaterprofis, die sich vor einigen Jahren verstärkt auch dem Tanz zugewandt haben. Linda Weißig ist die langjährige Choreographin und Tanztrainerin der Thikwas, und etliche Berliner zeitgenössische Tanzschaffende haben mit der Kompanie produziert: Angela Schubot erarbeitete für den Tanzabend 1 mit Karol Golebiowski ein Duett, Martin Clausen ein Duo mit Torsten Holzapfel. Nicola Mascia und Matan Zamir von matanicola waren am Theater Thikwa zu Gast, ebenso wie Martin Nachbar, Makiko Tominaga und Modjgan Hashemian.
Juli Reinartz, die Choreographin von „Aftershow“, kennen die Thikwas schon vom „Tanzabend 4 – Identität ist sowieso Quatsch“. Eine Vertrautheit war also da, und mit „Aftershow“ scheinen die Performer*innen erforscht zu haben, wie weit dieses Vertrauen auf der Bühne gehen kann und was aus acht Individuen eine Gruppe macht – wie es sich so kooperieren lässt, dass jede*r seine oder ihre Individualität und Eigenheit bewahrt.
Getaucht in mal in orangefarbenes, mal tief blaues oder wohnzimmergemütlich gelbweißes Licht, probieren die Acht unter anderem das Lehnen und Stützen in verschiedenen Konstellationen: Tiana Helock-Yensen und Anne-Sophie Mosch, obgleich von sehr unterschiedlicher Größe, drücken fest und lang ihre Bäuche gegeneinander. Verbunden und gestützt, lassen sie ihre Blicke schweifen, beobachten die Kolleg*innen, die ebenfalls in den Kontakt gehen. Hilarius Urban, akrobatisch gesinnt, legt sich Juli Reinartz über den Rücken und baut die waghalsigsten Körperkonstrukte mit seinen Gegenübern, an deren Gleichgewicht seine kühnen Pläne mitunter scheitern. Urbans Sehnsucht nach dem geglückten Handstand ist ein wiederkehrendes Motiv des Abends. Leise und ganz nebenbei webt auch Kerstin Buenaventura ihren Strang in den performativen Teppich: Vor einer Gruppe Zuschauer*innen sitzend, liest sie recht früh im Stück einen verknäulten Text, in dem ihre Haare zur Löwenmähne werden. Ohne dass der Löwe noch einmal zur Sprache käme, zerzaust ihre sorgfältig glatt gekämmte kinnlange Frisur nach und nach, bis eine wuschelige Mähne ihr Gesicht rahmt.
Auch Untiefen deuten sich an in der Folge kleiner Forschungseinheiten, die von den Lichtstimmungen, den Techno- und Dance-Tracks, dem unterschiedlichen körperlichen Aktionsgrad und den Ortswechseln (auf die Tribüne!) strukturiert wird. Eine Hand am Hals weist auf potentiell Gewaltvolles hin – ohne über die Geste hinaus ins Schauspiel zu verfallen. Das gegenseitige Befühlen der Gesichter changiert zwischen interessierter Zartheit und zudringlicher Indiskretion. Ohne Scheu und falsche Scham scheint gelegentlich ein sexuell konnotierter Moment auf, eine Bewegung im Kippmoment von professionell-vertrauter Nähe und leicht unbehaglicher Über-Intimität. Juli Reinartz und ihre Dramaturgin Liz Rosenfeld platzieren in „Aftershow“ einige Risiken, ohne den Grundton des Zugewandtseins zu gefährden. Nur schön gibt’s hier nicht, und das ist schön.