In ihrem Solo-Stück “My Breast on the Table” im DOCK 11 lässt sich Judith Sánchez Ruíz auf die Spontanität des mit Publikum geteilten Moments ein. Durch Körper- und Stimmimprovisationen und Experimente mit Storytelling macht sie durchlässig, was sie innen und außen bewegt.
In einem verdunkelten Raum begrüßt uns zuerst nur die Stimme von Judith Sánchez Ruíz. Nach einer kurzen Vorstellung ihrer Person, erzählt die 48-jährige Tänzerin/Choreografin von ihrem Vorhaben bei diesem Stück. Erstens will sie die Transparenz des Geistes in der Gegenwart erreichen. Alles was im Kopf stattfindet sofort freilassen, sofort verbalisieren. Zweitens will sie ihre Stimme freilassen, den Instinkt der Musikalität finden. Als die Lichter angehen, begrüßt sie uns persönlich und holt uns in die Gegenwart. Sie wiederholt die Vorstellung vom Beginn, fügt aber neue Details hinzu, zum Beispiel alles was sie hinter sich gelassen hat. Sport, Ballett, ihre erste Tanzkompagnie, ihr Heimatland Kuba…
Es wird angekündigt, dass wir Teilnehmer*innen eines interaktiven Stücks sind. Der Austausch findet aber nicht in gegenseitigen Gesprächen oder Dialogen nonverbaler Natur statt. Wir bleiben Zuschauende bis auf einen einzigen Moment am Anfang, wenn Ruíz uns einlädt, mit Kreide ein Wort auf den Bühnenboden zu schreiben. Ein Wort aus unserer Kindheit, das Ähnlichkeiten mit unserem Pfad im Leben hat. Auf dem Boden stehen “Überraschung”, “Geister”, “Resilienz”, “Scham”. Glückliche und weniger glückliche erwachsene Kinder sitzen im Publikum. Sie sagt, dass sie später auf diese Wörter eingehen wird. Später werden die Wörter jedoch weggewischt. Ruíz geht auf sie indirekt ein, ihr Körper empfängt diese Wörter und spuckt sie wieder aus. Sie demonstriert, wie die Spuren der Vergangenheit die Bewegungsinstinkte von heute prägen. Es ist ein Monolog, der sich wie ein Dialog anfühlt, während sie sich immer tiefer der Improvisation hingibt. Der Klassik- und Jazz-Pianist Santiago Gervasoni begleitet sie dabei.
Ruíz erzählt von ihren “Traumata”, aber benutzt das Wort ganz anders als im psychologisch-klinischen Sinne. Für sie sind Traumata positive oder negative physische Abdrücke. Als eine Frau, die in Kuba, New York und Berlin gelebt hat, als eine Künstlerin, die u.a. mit Sasha Waltz, Trisha Brown und Deborah Hay gearbeitet hat, als eine Lehrerin, eine Improvisatorin hat sie einen extrem reichen und bunten Schatz an Traumata. Sie führt komplizierte Bewegungsfolgen fast ohne Wiederholungen vor. Manchmal wie eine Besessene. Unterschiedliche Kostüme erwecken unterschiedliche Erinnerungen. In ihrem weißen Kleid, das sie bei einer Aufführung mit der Trisha Brown Dance Company anhatte, bewegt sie sich wie in Zeitlupe zwischen Kontrolle und Trance.
Sie zeigt, was passiert, wenn sie “ihren Körper bricht” oder einem Teil ihres Körpers folgt, als ob sie von ihm geführt wird. Nach mehreren Minuten des Demonstrierens sagt sie einfach: “…and something like that.” Als ob das, was sie auf der Bühne tut, das gewöhnlichste im Leben ist. Manche lachen. Es wirkt aber alles tatsächlich vertraut und gewöhnlich, wie sie jegliche Instinkte mit uns teilt, bevor sie sich zu Konzepten, zu Gedanken weiterentwickeln können. Dasselbe macht sie auch mit ihrer Stimme, improvisiert mit Worten und Lauten, singt und murmelt und dröhnt. Gervasoni begleitet Ruíz dazu mit seiner Stimme. Dem Geist bleibt keine Zeit, um Illusionen zu schaffen.
“My Breast on the Table” nimmt Bezug auf Reality Shows und Ted Talks. Aber nicht als Formate eines voyeuristischen Fremdschämens oder aufmunternder Illusionen. Es geht darum, vor den Zuschauer*innen eine Realität zu konstruieren, ohne sich dabei auf ein vorgeschriebenes Drehbuch zu stützen. Bezüglich der in die Psyche greifenden Wirkung dieses eindrücklichen Stücks kann diese Referenz irreführend sein, denn Reality Shows oder Ted Talks gelingt es meistens nicht, ohne eine emotionale Ausbeutung der “Traumata” Zuschauer*innen zu gewinnen. Judith Sánchez Ruíz meint es anders. Wenn sie mit ihrem Körper und ihrer Stimme Kontakt aufnimmt und diesen spezifischen Moment mit Klarheit kommuniziert, erweckt sie von Leichtigkeit bis Traurigkeit spontane emotionale Reaktionen. Es erdet und beflügelt, wenn das eigene unbewusste Bewegungs- und Stimmvokabular sich dem Bewusstsein vorstellt, ohne die Erlaubnis der Gedanken erfragen zu müssen.