ZUHÖREN #4, Sasha Waltz & Guests: Teens-Gruppe der Kindertanzcompany von SW&G ©Eva Radünzel

Kollektiver Körper

Ihre Begegnung mit der geflüchteten syrischen Journalistin Yasmine Merei brachte Sasha Waltz 2015 auf die Idee, mit dem Format ZUHÖREN einen „dritten Raum für Kunst und Politik“ zu begründen – einen Zeit-Raum, in dem sich Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und alle Interessierten begegnen können, um über drängende Fragen der Zeit zu diskutieren. Nach Flucht und künstlerischem Widerstand in den ersten drei Ausgaben rückte in ZUHÖREN #4 das zurzeit vermutlich brennendste Thema in den Fokus – die Klimakrise.

Ins Handeln kommen: Angesichts eines immer fragiler wirkenden ökologischen Gleichgewichts auf dem Planeten Erde geben Sasha Waltz & Guests eine aktivierende Losung aus für die vierte Ausgabe ihres Veranstaltungsformats ZUHÖREN. Zum dreitägigen Austausch (13.-15. Dezember 2019) bitten sie Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Zuschauer*innen ins radialsystem. Zeitlich parallel zur Weltklimakonferenz in Madrid, die ihre Abschlusserklärung weiter und weiter aufschiebt, laden Panels, Workshops, Performances, Filme, Konzerte dazu ein, im Zeichen der Empathie neue Verbindungen zu knüpfen und genussvoll zu lernen, wie es in der Ankündigung heißt. Umfangreich das Programm, ehrgeizig das Ziel, ganzheitlich der Ansatz.

Im Netzwerken liegt eine Stärke von Sasha Waltz & Guests, und dass eine künstlerische Institution das transdisziplinäre Gipfeltreffen organisiert hatte, merkt man der Dramaturgie von ZUHÖREN #4 an. Einen steten Wechsel der Formate und Veranstaltungsorte im ganzen Haus sieht sie ebenso vor wie eine beständige Veränderung der körperlichen Haltung und Involvierung. Den zweiten Tag etwa eröffnen der Tänzer Medhat Aldabaal und der Musiker Ali Hasan mit ihrem am radialsystem etablierten „Dabke Community Dancing“. Kooperation zwischen den Teilnehmer*innen ist nötig, Rücksichtnahme und Achtsamkeit: Im Kreis der einander an den Händen haltenden Tanzenden entsteht so das Gefühl von Zusammengehörigkeit.

Derart aufgeschlossen und des Rückhalts einer Gruppe versichert, versetzen die von der Polar- und Meersforscherin Antje Boetius in ruhigem Ton vorgetragenen Forschungs-Fakten nicht in Panik, sondern ihre Botschaft sickert ein: Handeln wir jetzt nicht, verlieren wir immer mehr Handlungsoptionen. Vom Verlust an Leben und Vielfalt künden ihre Folien, auf denen tiefrot eingefärbte Erdregionen einen massivem Temperaturanstieg anzeigen und CO2-Kurven exponentiell in die Höhe schießen. Ihre Botschaft: Der Ausstieg aus den fossilen Energien drängt. Was jede*r vom faktisch nötigen Systemwandel Überzeugte tun kann, ist es, der furchtsam-zögerlichen Politik demonstrierend zu zeigen, dass auch einschneidende Maßnahmen von den Bürger*innen mitgetragen werden.

ZUHÖREN #4, Sasha Waltz & Guests – Linkes Bild: „Dabke Community Dancing“ mit Medhat Aldaabal und Ali Hasan, Rechtes Bild: Gespräch „Climate & complexity – from different perspectives“ mit Antje Boetius, Grace Mbungu, Quang Paasch und Josh Fox (v.l.n.r.) ©Eva Radünzel

Rüstzeug für Protest und Widerstand auf den Straßen bieten einige der Workshops. Extinction Rebellion-Aktivistin Kate Sagovsky stellt in „Embodying resistance“ eine so einfache wie einleuchtende Körperübung vor, um sich des eigenen räumlichen Standpunktes als einer Verhandungsposition zu vergegenwärtigen. Auf Grundlage der vier Parameter push, pull resist, yield (drücken, ziehen, widerstehen, nachgeben) gehen je zwei einander gegenüber stehende Teilnehmer*innen in die non-verbale Aushandlung einer gemeinsamen Bewegungsrichtung: Wenn Person A schwungvoll vorwärts läuft und Person B, ihrem Impuls folgend, entspannt rückwärts geht, oder wenn B aggressiv nach vorne drängt und A entschieden den Weg blockiert, wird das Aushandeln gesellschaftlicher Veränderung unmittelbar als soziale Choreographie erlebbar. Die erfahrene Einsicht, welche der vier Qualitäten einem näher sind, welche ferner, könnte in zukünftigen Argumenten die Flexibilität erhöhen – das ist Wissen in Bewegung.

Auch außereuropäische Wissensformen reichern ZUHÖREN #4 an: Die Teens-Gruppe der Kindertanzcompany von Sasha Waltz & Guests hat für „Teqsi muyu marq’ay – Eine warme Umarmung für die Erde“ von der peruanischen Tänzerchoreographin Luz Zenaida Hualpa García einen Quechua-Tanz erlernt. Schroff sind die zwei Teile ihres Stücks aneinander gefügt: Besteht der erste Teil ihrer Performance aus geduckt-gewundenen Bewegungen zu den Schilderungen einer dystopischen „Toxic City“, in der Elektroschrott in vergifteten Lagunen recyclet wird, weicht das Düstere im zweiten, auf die Bühne verlagerten Teil dem Heiteren, wenn die Teens mit Instrumenten und Objekten Naturgeräusche nachahmen und dann eine kraftvoll-mitreißende Gruppenchoreographie tanzen, die, auf dem Quechua-Tanz beruhend, ins Zeitgenössische hinüberschwingt. Das anschließende Panel, bei dem der moderierende Buchautor Andreas Weber den nicht-menschlichen Wesen dankt, die zum Gelingen der Diskussion beitragen sollen, hat mitunter peinsame Züge, denn man beobachtet, wie vier kluge Frauen – Luz Zenaida Hualpa García, zwei sehr präsente, reflektierte Jugendliche der Teens-Gruppe und die Naturheilpraktikerin und Wildnispädagogin Isabel Knauf – geduldig die Selbstaufklärung eines weißen Mannes begleiten.

Zwischen Erkenntnis und Handeln, das wird in solchen Momenten deutlich, klafft nicht selten eine Lücke. Auf die Frage, ob Frauen in unserer Gesellschaft noch nicht die gleichen Chancen hätten wie Männer – am dritten Tag gestellt von Maria Exner, der stellvertretenden Chefredakteurin von Zeit Online und Mit-Initiatorin des Talkformats „Deutschland spricht“, die auf dem Panel des Progressiven Zentrums zu „Climate, change & democracy“ sitzt, welches mit ihr, dem Politikprofessor und ehemaligen Obama- und Macron-Campaigner Lex Pauslon sowie dem südafrikanischen Konfliktmediator Bernard le Roux hochkarätig besetzt und hervorragend moderiert ist – melden sich fast alle Anwesenden. Verwirklicht ist die Gleichberechtigung eben noch nicht, wie das Panel zu „Indigenialität“ erwies, in dem der männliche Part zum geringeren Teil im Zuhören bestand.

In dieser Lücke, die ja auch für Transformationsbestrebungen angesichts der Klimakrise gilt, ist das derzeit dringend nötige Handeln zu situieren. Nur: Was genau zu tun ist, kann auch ZUHÖREN #4 nicht beantworten. Ein Manifest, Selbstverpflichtungen, ein Leitfaden, künstlerische Folgeprojekte oder Vernetzungsangebote gibt es während des Wochenendes nicht. Das Ziel, „gemeinsam ins Handeln zu kommen“, bleibt auf den Moment des konkreten Austauschs beschränkt. Verrauscht auch ZUHÖREN als ein weiterer empathisch-moralischer Wohlfühl-Appell? Wenn etwas im Nachgang Früchte tragen kann, so ist zu hoffen, sind es die neu geknüpften Verbindungen – im Kopf, im Körper und im Kollektiv der Mitanwesenden.