„Vier“ – Steve Stymest, Jan Kress, Rita Mazza, Athina Lange © Paul Sleev

Hände

Vier gehörlose Performer*innen, Steve Stymest, Jan Kress, Rita Mazza und Athina Lange, kreieren ein Musical – „Vier“ – und nutzen dafür den Reichtum und die Vielfalt der deutschen Gebärdensprache und Visual Vernacular, um die Musik von einer anderen Seite her zu „betreten“. „Vier – Ein visuelles Musical in Gebärdensprache“ feierte am 17. Dezember 2019 in den Sophiensælen Premiere.

Haben Sie ihre Hände wirklich schon mal aus der Nähe betrachtet? Sie können ganz eigene Wesen sein. Sie tragen so viele Züge, so viele Eigenschaften, sie offenbaren Raffinesse und Information, Linien und Punkte, die sie um sich zeichnen, können wirklich eine ganze Menge über eine Person aussagen. Ja, sie können buchstäblich sprechen. An diesem Abend finde ich mich in der Kantine in den Sophiensælen in dem sprechenden Händewald der vielen gehörlosen Zuschauer*innen und der vier gehörlosen „Vier“-Performerinnen wieder.

Das Stück beginnt mit Musik und die vier Performer*innen bewegen sich synchron zu ihr. Ich versuche mich vom genauen Verstehenwollen nicht vereinnahmen zu lassen, dessen, wie sie dies tun (manchmal ist es das Beste, man akzeptiert eine Sache), sondern versuche mir anstelle vorzustellen, wie sich die Szene für die vielen gehörlosen Zuschauer*innen anfühlt, die vor der Show auf Gebärdensprache konversierten. Schnell akzeptiere ich, dass ich nicht sie bin, da ich sehe, dass dies unmöglich ist, und erlaube mir, einen imaginären Raum zu betreten, während ich versuche ein Fetischisieren einer Welt zu vermeiden, deren Teil ich nicht bin.

Das Licht verändert sich und die Musik hört auf. Von diesem Punkt an bin ich diejenige, die nicht „hören“ kann. Die Arme und Hände der Performerinnen bewegen sich mit deutlichen und rhythmischen Gesten. Ich weiß nicht, wann diese Bewegungen eine explizite Bedeutung transportieren, und wann sie sich einfach bewegen. Wenn ich jene Zuschauerinnen lachen höre, die verstehen, oder spüre, wie sich manche konzentriert nach vorne lehnen, nehme ich an, dass eine gewisse Bedeutung, auf die ich nicht zugreifen kann, durch den expressiven Händefluss mitgeteilt wird. Ich genieße dieses Nichtwissen. Eine meiner Lieblingsformen zu reisen ist es, irgendwo hinzufahren, allein, wo ich die Sprache nicht spreche. Die Freiheit nicht zu verstehen oder nicht zu versuchen verstanden zu werden, erlaubt es mir, einfach zu existieren, zu beobachten, aufzunehmen. Ich spüre diese Freiheit, während ich hier versunken in diese ungewohnte Welt der Kommunikation sitze.

Im Programmheft sprechen die Macher darüber, die Vielfalt der Gebärdensprache zu verwenden, um die Grenzen der Musik auszuweiten. Sie nutzen die sogenannte ‚Nachteile‘ ihrer Gehörlosigkeit, um ein poetisches Erlebnis zu schaffen. Ich denke über meine ‚Nachteile‘ nach und wie ich sie nutzen kann, um poetische Verwirrung zu stiften. Beispielsweise habe ich absolut keinen Orientierungssinn. Wenn ich eine Straße entlanglaufe, ein Geschäft betrete und wieder herauskomme, bin ich nicht in der Lage zu sagen, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Ich nutze diese persönliche Eigenschaft als Instrument und lasse mich komplett die Orientierung verlieren. Ich bummele langsam umher und genieße den Prozess, bis ich recht bald überhaupt keine Ahnung habe, wo ich bin. Beim Erleben des Musicals spüre ich etwas Ähnliches. Ich fühle mich, als wäre ich mitten in einem unbekannten Wald, umgeben von Bäumen, von denen jeder einen Namen trägt, der mir unbekannt ist. Das dichte Unterholz stellt die Schichten der sich bewegenden Hände dar, der ausdrucksstarken Körper und die klare Luft der Feinsinnigkeit, die von diesen Körpern herströmt, sowie die Art und Weise, in der sie Berührung als natürliches Mittel der Interaktion benutzen. Und ich empfinde dieses Gefühl des ‚Verloren-Seins‘ als wohltuend, als wäre ich in einen Kokon sanften Lichtes gehüllt und das Geräusch des Windes streicht die Blätter.

Zuzuhören ist oftmals Liebe. Wer in etwas oder jemanden verliebt ist, hört aufmerksamer zu. Die Art zuzuhören, die ich meine, ist sehr weit gefasst; man kann den ungesprochenen Pausen zwischen den Worten ‚zuhören‘, einer winzigen Veränderung in jemandes Blick, einer bestimmten Berührungsqualität. Dies ist der Grund, warum ich gewissenhaft jeder Veränderung im Musical und der Atmosphäre des Raums gewissenhaft ‚zuhöre‘: Ich bin in Hände verliebt. Die Anwesenheit so vieler sprachgewandt sich bewegender Hände und mitten unter ihnen zu sein ist betörend und fast schon schwindelerregend. Für die Dauer eines Solos innerhalb des Stücks leuchtet ein Scheinwerfer auf ein paar Hände. Sie bewegen sich über eine ganze Zeit hinweg unablässig und leidenschaftlich – mit hypnotischer Wirkung auf mich.

Warum ich in Hände verliebt bin? Vielleicht liegt der Grund darin, dass ich Musikinstrumente spiele. Klavierspielen ist eine Sache, die ich nur für mich selbst tue, und wenn ich spiele, dann spüre ich, dass ich mir authentisch Ausdruck gebe. Es ist eine Form des Ausdrucks ohne gesprochene Wörter. Stattdessen liegt dieser in der gerichteten Bewegung der Finger, die die Tasten drücken, in der Vibration der variierenden Klangnuancen, dem Wechselspiel von Geschwindigkeit, Kraft und Atem zwischen den Noten. Es ist ein physisches Erlebnis, das Emotion über Berührung freisetzt und Klang produziert. Es ist ein Raum der Ausdruckskraft, die mich bewegt.

Ich beobachte, dass „Vier“ in einem ähnlichen Rahmen einer bestimmten Sensibilität detaillierten physischen ‚Zuhörens‘ und Ausdrucks stattfindet. Ich sitze in den Tälern sich gewandt bewegender Hände und das löst in mir den Wunsch aus, in ihnen zu verschwinden, als wenn jede durch das Drücken der Tasten auf dem Klavier produzierte Note durch die Hände selbst ausgetauscht würde. Ich spüre ein warmes Herandrängen von Zärtlichkeit, wie in dem Moment, wenn ein liebes Wesen seinen Kopf zwischen meinen Brüsten vergräbt und einschläft. Dessen Atmen, die Luft, die aus seinem Mund strömt, verwandelt sich in eine intime Klanglandschaft. Die Luft berührt den weichen Teil meiner Haut über meinem Herzen, wo die beiden Hälften meines Brustkorbes sich treffen, und produziert Wärme. Diese Wärme dringt als Berührung und Erinnerung unter meine Haut.

Gegen Ende des Musicals holen die Performerinnen starke tragbare Lautsprecher hervor, die laute Tanzmusik emittieren. Sie fangen an zu tanzen und laden das Publikum ein, mit ihnen zu tanzen. Für die nächsten fünf Minuten, oder so, steigt eine Tanzparty und die Lautsprecher werden im Publikum herumgereicht. „Können manche ‚gehörlose‘ Menschen hören, wenn sie lauten Klang ganz nah an ihre Ohren bringen?“, frage ich mich. Während ich mit dem Lautsprecher in meiner Hand beschäftigt bin, spüre ich eine plötzliche Veränderung in der Luft. Es ist, als ob ich in einem Wald stehen würde und mich selbst an einem windstillen Punkt wiederfinde, während alle Blätter plötzlich still zur Erde fallen. Ich schaue auf. Das Publikum hat die Performerinnen umringt, einen großen Kreis um sie herum gebildet. Sie alle haben ihre Arme über ihre Köpfe gestreckt und lassen ihre Finger und Hände vor und zurück wogen, als wären sie Blätter im Wind. Stiller Applaus. Ich spüre eine Befeuchtung der Luft, als diese kollektive Energie durch den Händewald freigesetzt wird. Habe ich mich in einem Wald verirrt, der sich in der Nähe eines Meeres befindet? Als die Windstille über den Wald bricht, verstärkt sich der Klang des Meeres plötzlich. „Oh,“ denke ich, „das Wasser ist die ganze Zeit hier gewesen!“ Und in diesem Moment des stillen Applauses spüre ich das Wasser hereindrängen.

Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski