„Mesh“, Maija Hirvanen ©Sanna Lehto

Mycel-Mystik

Die finnische Choreografin Maija Hirvanen imaginiert beim diesjährigen Tanz im August mit „Mesh“ (12.-14.8.2022, HAU 2) eine mystifizierte Vision der Verwobenheit alles Lebendigen.

Keinem bleibt seine äußre Gestalt, die Verwandlerin aller 
Dinge, Natur, sie läßt aus dem Einem, das Andere werden.
(Ovid)

Abweichend von Bruno Latours Vorstellung der Welt als Netzwerk, beschreibt der Anthropologe Tim Ingold die Welt als ein meshwork, ein Geflecht. Menschen sind für ihn keine einsamen Akteure, keine festen Punkte sich kreuzender Linien, sondern die Linien selbst, in ständiger Bewegung, in Interaktion und Divergenz. Als Teilnehmende eines Prozesses, der von Tieren, Pflanzen, Dingen, Menschen, Luft usw. geschaffen wird, bilden sie ein kollektives Geflecht von ineinander verwobenen Linien des Werdens und Vergehens. Statt ein Netz aus Punkten sieht er ein Flechtwerk aus sich berührenden Linien – und es ist naheliegend, dass bei ihm auch die Pilzmyzelien Erwähnung finden, die den Ausgangspunkt bilden für Maija Hirvanens „Mesh“, das am 12. August 2022 bei Tanz im August uraufgeführt wurde. 

Unter ihren Buchempfehlungen – Tanz im August fragt seit 2016 alle Choreograf*innen nach drei mit ihrer gezeigten Arbeit in Verbindung stehenden Büchern, woraus die Bibliothek im August besteht – findet sich nicht Tim Ingold, dafür aber: „Dub: Finding Ceremony“ von Alexis Pauline Gumbs, „Matters of Care – Speculative Ethics in More Than Human Worlds“ von María Puig de la Bellacasa und natürlich Merlin Sheldrakes Buch „Verwobenes Leben: Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen“

Als Metapher für alternative soziale Gefüge und Kollaborationen werden Pilze und insbesondere deren unterirdische Versorgungs- und Fortpflanzungsvernetzungen, die Myzelien, im künstlerischen Kontext fast schon inflationär gebraucht, weil sie eine dezentrierte und multiperspektivische Sicht auf eine Realität eröffnen, die nicht mehr mit rein anthropozentrischen Parametern beschrieben werden kann. Welche Sehnsüchte aber drücken sich in solchen biologischen Metaphern (Rhizome, Seesterne, Ameisen und Pilze, um nur wenige zu nennen) aus? Beruhigen sie unsere wachsende Sehnsucht nach zärtlicher, gewaltfreier Verbundenheit, weil sich neben Klimawandel, Pandemie, Krieg und gesellschaftlichen Spaltungen immer neue Bedrohungen auftürmen, die wir nur kollektiv bewältigen können?

Zunächst beobachten wir im Dämmerlicht der Bühne im HAU 2 ein pulsierendes Zucken. Gliedmaßen, die rhythmisch auf den Boden klatschten, sich sehr langsam in die Vertikale schieben, um sich dann mit- und ineinander zu verknäulen, so zu verschränken, dass unklar bleibt, welches Glied zu welchem Körper gehört, wo etwas beginnt, wo es endet. 

Die vier Tänzer*innen Marika Peura, Marlon Moilanen, Suvi Tuominen, Pie Kär bilden einen gemorphten, d.h. diskret im Verborgenen ablaufenden Gestalt-Wandel jenseits von Kollektiv- und Einzelkörpern: Bewegungen, manchmal synchron, dann wieder scheinbar eigenständiger, verschränken und entschränken sich, sichtbare Verbindungen lösen sich wieder auf, zerfallen, um schließlich in etwas amorph Kreatürliches neu zusammenzufinden.

Der Raumklang von Tatu Nenonen, der aus den akustischen Aufnahmen der Bewegungen im Bühnenraum und durch einfache und multiple Delays zu einer Feedbackschleife sich verdichtet, schafft einen zurückhaltend knisternden Sound, der aus den Tiefen eines Erdreichs herauf zu rumoren scheint. Die akustische Atmosphäre wird spätestens mit dem Einsetzen jaulender Intonationen der vier Tänzer*innen noch dichter und mystisch aufgeladen.

Mit dieser auditiven Durchwirkung des Raumes wird immer deutlicher, dass die eigentlichen Verbindungs- und Verwandlungslinien für uns nicht sichtbar sind, sondern irgendwo in immateriellen Zwischenräumen gebildet werden. Wie ein Geflecht aus Myzeln, den angeblich elektrisch leitfähigen Pilzfäden, die Informationen übertragen und zu winzig sind, um sie mit bloßem Auge zu erkennen, breitet sich zunehmend ein unsichtbares und allumfassendes Gewebe im Bühnenraum aus – das schließlich am Ende des Stückes auch physisch den Zuschauerraum durchdringt, als die vier Tänzer*innen sich durch die Sitzreihen hangeln. Eine dramaturgisch eher plakative (und definitiv Covid-nährende) Entscheidung, die sicher nicht nötig gewesen wäre, um diese allumfassende Verstrickung bewusst zu machen.

Nach und nach verschwand alles. 
Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.
(Houllebeque)


„Mesh“ von Maija Hirvanen wird noch dieses Wochenende, am 13./14. August 2022, jeweils um 19 Uhr im HAU Hebbel am Ufer (HAU2) gezeigt. Tickets unter tanzimaugust.de.

Tanz im August – 34. Internationales Festival Berlin läuft bis zum 27. August 2022, das vollständige Programm findet sich unter tanzimaugust.de.