„Unearth“, Jefta van Dinther ©Jubal Battisti

Polyphone Trauerwunden

Jefta van Dinthers „Unearth“ löst mittels Stimme und Tanz Erinnerungsfragmente und macht Gefühle der Verbundenheit erfahrbar. Die Uraufführung der vierstündigen Dauerperformance fand im Rahmen von Tanz im August am 13.8.2022 in der St. Elisabeth-Kirche statt und kann noch bis zum 16.8. besucht werden.

Die zehn Tänzer*innen Juan Pablo Camara, Emeka Ene, Leah Katz, Gyung Moo Kim, Leah Marojević, Dana Pajarillaga, Manon Parent, Roger Sala Reyner, Thomas Zamolo und Jefta van Dinther erwarten uns bereits in dem großen, hohen Saal der St. Elisabeth-Kirche. Sie tragen entweder enge Hosen mit verstärkten Sitzflächen, transparente Strumpfhosen oder kurze Hosen mit engen Sportshirts und lockere T-Shirts in zumeist erdigen Tönen, dazu derbe schwarze Stiefel. Einige Performer*innen sitzen gekrümmt oder liegen auf dem Boden und andere stehen, mit einem erschöpften Ausdruck im Gesicht, gebuckelten Rücken und hängenden Armen an die Steinwand gelehnt. Während wir Zuschauer*innen langsam eintreten und versuchen, dabei so leise wie möglich zu sein, bewegen sich die Performer*innen langsam, sie sind einander zugewandt, fassen sich zärtlich an, zwei küssen sich fast, doch scheinen sie sich nicht direkt anzusehen. Die Zuschauer*innen lassen sich derweil mit ihren Rücken an der Wand auf dem Boden nieder, auf den vereinzelten Stühlen oder auf den Stufen zum Chor. Tageslicht kommt herein durch die langen Fenster und die gläserne Decke.

Zwei Performerinnen, Manon Parent und Leah Katz, befinden sich direkt vor mir auf dem Boden. Die sitzende Parent reibt der auf ihr liegenden und verwundet anmutenden Katz über ihren Oberschenkel und Rumpf, aber drückt zu stark, als dass es liebevoll wirken könnte. Verträumt singt die sitzende Performerin, besingt die Liegende. Ihr Gesang verliert sich im Raum, ist mehr Melodie als Text. Wiederum langsam drehen sich die zwei, liegen aufeinander, küssen sich kurz und tauschen dann umschlungen ihre Positionen. Liegend setzt Manon Parent ihren Gesang fort: „I guess it’s just my life, it’s just my body“ – es ist eine Zeile aus dem Song „Body“ von Julia Jacklin. Sie wiederholt diesen Satz unaufhörlich, während die weiteren Performer*innen sich ihnen nähern, geduckt, mit vorgebeugten Oberkörpern, nach vorn hängenden Armen und schlaksigen Beinen, dann in der Hocke und auf allen Vieren. Ihre Bewegungen erinnern mich an den Gang von Untoten, die nicht zur Ruhe kommen, oder an den von Affen. Ihre Blicke wirken leer und schlaftrunken, ihre weit aufgerissenen Augen suchend. Langsam richten sich Manon Parent und Leah Katz auf, und gemeinsam mit den anderen schlendern, schleppen sie sich zur gegenüberliegenden Wand. 

Dann stimmt Leah Marojević in den Gesang ein mit Strophen des Titels „My Life“ der schwedischen Band jj: „I’m grindin’ until I’m tired. They say you ain’t grindin’ until you die.“ Auf dem Boden sitzend, mit schmerzverzerrtem Gesicht und gestrecktem Hals, singt Marojević laut, füllt den hohen Saal der Kulturkirche akustisch mit der klaren voluminösen Stimme: „Dear Lord, you took so many of my people. I’m just wondering why you haven’t taken my life. What the hell am I doing right?“ Diese Sätze wiederholen nun auch die anderen Performer*innen einzeln. Als Litanei eines vermeintlich kollektiven Gedächtnisses, das doch für jeden Menschen individuelle traumatische Erfahrungen und Erinnerungskulturen bedeutet, die sich in ihre Körper einbrennen, in die Seelen, die von der Zerstörungskraft der Gewalt und den Schmerzen der Trauer gezeichnet sind. Die Tänzer*innen liegen beinahe auf den Zuschauer*innen an der Wand, verschwinden unter ihnen, sprechen aus ihnen heraus. Das Singen wird hier zu einer introspektiven Geste, die auch die Zuschauer*innen sichtlich ergreift – mir treibt sie fast Tränen in die Augen –, vermutlich an ihre eigenen Erinnerungen denken lässt, an die Ungerechtigkeiten des Lebens, seine Willkür, an die Verletzungen und Verluste, die es durchziehen. 

Die zehn Performer*innen singen in einem polyphonen Chor, in welchem die Stimmen sich überlagern, neue Sätze bilden. Noch immer singend, kriechen die Tänzer*innen auf Knien zur Mitte des Raums in einer gemeinsamen Wanderung. Dabei reitet Dana Pajarillaga auf dem Rücken eines*r anderen Performer*in. Vergewissernd, dass die Herde vollständig und vor äußeren Gefahren sicher ist, schauen die Tänzer*innen zur Seite und nach hinten, machen zum Teil kehrt und reihen sich wieder ein. Obwohl sie desorientiert und in ihren eigenen Gedanken- oder Traumwelten versunken scheinen, brauchen sie einander, sie halten zusammen. So wandern sie im Verlauf der insgesamt vierstündigen Durational Performance von Ecke zu Ecke und wieder zur Mitte. Nach einer Weile finden sie in den Körpern, in den Mündern und Bauchorganen der anderen Tänzer*innen imaginäre, für uns Zuschauer*innen unsichtbare Fäden oder Faszien, die sie aus ihnen herausziehen und mit ihren Händen spannen, um sie den anderen zu präsentieren. Die wiederum begutachten sie mit Staunen. Auch den Boden nähen sie zusammen, zurren ihn fest, zerreißen Stränge, ziehen Schrauben und drücken Nägel ein. Versuchen sie, etwas zu kitten, zusammenzuflicken oder zu heilen? Die Verwobenheiten mit der Umwelt, mit der Erde, aufzudecken? Sie begleiten ihre Wanderungen und Heilungsversuche mit Interpretationen bekannter Songs, die auch die Zuschauer*innen womöglich mit Erinnerungen verbinden, darunter „S.O.S.“ von ABBA: „When you’re gone, how can I even try to go on? When you’re gone, though I try, how can I carry on?“. Der kulminierende Sprechgesang schlägt um in Jubellaute, in Grölen, Jammern, Schluchzen. Es sind stimmliche Geräusche und Klänge, die Gefühle ausdrücken und Informationen senden können, wenn Worte versagen oder sprachliche Übersetzungen nicht (mehr) zur Verfügung stehen.

Nach zwei Stunden folgt die Wiederholung des Stücks mit dezenten Veränderungen. Obwohl die Zuschauer*innen während der Dauerperformance ein- und ausgehen dürfen, bleibe ich wie viele andere aus dem Publikum bis zum Schluss im Saal, transzendiert, als es bereits dunkel wird und die Stimmen umso mehr hervortreten.


„Unearth“ (Uraufführung 13.8.2022, Tanz im August 2022, St. Elisabeth-Kirche Berlin-Mitte) – Choreografie: Jefta van Dinther. Performance: Juan Pablo Camara, Emeka Ene, Leah Katz, Gyung Moo Kim, Leah Marojeviç, Dana Pajarillaga, Manon Parent, Roger Sala Reyner, Thomas Zamolo, Jefta van Dinther. Kostümdesign: Cristina Nyffeler. Stimmbildung: Doreen Kutzke. Assistenz Choreografie: Thomas Zamolo. Künstlerische Beratung: Gabriel Smeets, Maja Zimmermann.


Die Durational Performance „Unearth“ von Jefta van Dinther ist vom 13.-16. August 2022 von 17.00-21.00 Uhr in der St. Elisabeth-Kirche zu erleben. Einlass ist jederzeit bis 30 Minuten vor Ende möglich, je nach Verfügbarkeit. Die Dauer des Aufenthaltes kann frei bestimmt werden. Tickets unter tanzimaugust.de.

Tanz im August – 34. Internationales Festival Berlin läuft bis zum 27. August 2022, das vollständige Programm findet sich unter tanzimaugust.de.