„Die Hörposaune“, Antonia Baehr & Jule Flierl, in a visual installation by Nadia Lauro ©Anja Weber

Klangrorschach

„Die Hörposaune” ist eine Einladung zur akustisch-sensorischen Erkundung von Körpern, Objekten und Texturen in einer ohne erkennbare Worte auskommenden, ebenso ernsten wie humorvollen scholastischen Inszenierung von Werner Hirsch (alias Antonia Baehr) und Jule Flierl. Die Premiere fand im 1929 erbauten Stummfilmkino Theater im Delphi in Berlin-Weißensee statt.

Ich trete durch den schweren Vorhang des Theaters im Delphi und finde mich in einem charmanten Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert wieder. Die prächtige, geziegelte Rückwand dieses Kinos aus der Stummfilmzeit fesselt meine Aufmerksamkeit jedoch nur einen kurzen Moment. Sogleich schweift mein Blick zu einem eigenwilligen Treppchen im Kinosaal selbst. Es ist mit einem pfauenfedergemusterten Stoff überzogen. Ich steige hinab, nehme Platz und greife zu einem der Kopfhörer, die für das Publikum der „Hörposaune“ bereitliegen. Ich streiche über den Pfauenteppich, die Darstellenden betreten den Raum, und die Klänge, die ich auf dem Ohr habe, transportieren mich in eine Höhle von Texturen.

Drag King Werner Hirsch (alias Antonia Baehr) und Jule Flierl begrüßen jede*n Theaterbesucher*in mit einem Blick. Dann schlagen sie die dicken, schwarzgebundenen Bücher auf, die vor ihnen liegen. Sie setzen sich auf die Stufen. Es ist ein würdevoller Augenblick, als wäre dies eine Plenarsitzung des Parlaments oder ein wissenschaftliches Symposium. Hier kommen wir zusammen, allwissend, in seriöser Sache, aus edlem Grund. Hirsch schaut uns an, konzentriert über den Rand seiner Brille hinweg, und ich erwarte (ge)wichtige Worte. Doch die Kommunikation der beiden Performer*innen ist, mit unbewegtem Gesicht, in gemessenem, würdevollem Ton vorgetragen unverständliches Geplapper in einer Sprache, die es nicht gibt. Der Kontrast ist witzig. Gleichwohl nehmen meine Ohren den Klang wahr, erfassen die Geräusche, ohne ihnen Bedeutung zuzuweisen oder sie emotional einzuordnen.  

Hirsch (alias Baehr) und Flierl tragen hochempfindliche Mikrofone, die noch die zartesten und hauchleisesten Töne aus ihrem Mund direkt auf unsere Kopfhörer senden. Dabei hört das Publikum nicht nur Sprechklänge, sondern auch Schlucken, Speichel, Ploppen, Grunzen und Klicken. Der sinnlich erfahrbare Sound steckt an. Auch ich muss schlucken. Im abgeschotteten Klangraum der Kopfhörer höre ich mein eigenes Schlucken ebenso laut wie ihre. Wenn sie in Gelächter ausbrechen – beziehungsweise das „Haha Hehe Huhu“ produzieren, das ich mit Lachen assoziiere – scheint es aus unterschiedlichen Teilen ihrer Stimmbänder zu ertönen. Die Aktivierung der hinteren Kehle, der Nasenhöhlen, der Stirn und der Kehlköpfe verleiht ihren unberechenbaren Lauten eine unheimliche animalische Qualität. Diese Eruptionen werden von sabbernden Stillephasen flankiert.

In einem anderen Moment der „Hörposaune“ befestigen die Performenden einen Satz hochempfindlicher Mikrofone in ihrer Unterwäsche. Was ich nun höre, macht mir ein weiteres Mal bewusst, dass der menschliche Körper eine vollendete Klangmaschine ist: Glucksen, Gurgeln, Quaken, Tropfen, Klicken. Ich bin fasziniert und zugleich abgestoßen. Diese Resonanzen verweisen auf eine Welt der Texturen, Farben und Bewegungen. Aus dem inneren Universum der Körper von Hirsch und Flierl heraustönend kitzeln sie die feinen Härchen in meinem Innenohr und finden ihr Echo in meinen eigenen Körperhöhlen, verschmelzen mit den Klängen in mir. Flierl brabbelt weiter, unverständlich (un)artikulierend, derweil wir den Widerhall ihrer Stimme in ihrem Bauch und ihren Gedärmen hören. Ich bin fasziniert – von diesem Augenblick und von der Frage, die er provoziert: Wie klingt der Körper für sich selbst? Wie hört er sich? Was hören meine Schienenbeine, wenn meine Kehle schluckt? Welchen Klang strahlt das Wachsen meiner Handgelenkknochen an meine Leber?

„Die Hörposaune“ lässt uns den menschlichen Körper in einer anderen, größeren Dimension wahrnehmen. Er ist nicht länger unitärer Organismus, sondern eine Kollektion aus Knochen, Muskeln und Flüssigkeit, die sich für alle Zeit und in unmittelbarer Nähe zueinander regen. Gliedmaße, Kopf und Torso bilden sich ergänzende Flächen und Texturen, bieten dem Klang neue Wendungen, auf denen er reisen, Echos und Brechungen erzeugen kann.

Weiterhin in erfundenem Kauderwelsch lesen Hirsch und Flierl nun laut aus mehreren Pop-up-Büchern. Ihre Finger folgen den Worten im Text. Projektionen nach oben zeigen blühende Büsche, den menschlichen Verdauungstrakt und Vulvas. Die Performenden zeichnen die sich von den Seiten lösenden Texturen und Farben mit ihren Händen nach – Zellophan, Pauspapier, Samt, Spitze und mehr. Sie scheinen diverse physische Stadien durchzumachen. Ihre Gesichtsmuskeln und Zungen bewegen sich im Einklang mit den Texturen. Als Echo der großen, fleischigen Blätter vor ihnen, und aus dem Innern der Pfauenfedertreppe, stoßen ihre Münder sonische Antworten hervor, während die aus dem Innern drängenden Töne, wenngleich unsere Ohren sie nun nicht mehr wahrnehmen, weiter erklingen.

Ich nehme „Die Hörposaune“ in meinen Gedanken mit als Sinfonie von Klangmustern, als akustische Tintenkleckse wie bei einem Rorschachtest, ohne dass es ein Buch gäbe, das mir sagt, wie diese zu interpretieren wären. Abends, im Bett, presse ich mein Ohr gegen das Kissen und lausche gebannt den pfeifenden, rauschenden, heulenden Winden in den Zellen meines Körpers.

Übersetzung ins Deutsche von Lilian Astrid Geese


„Die Hörposaune“ (Premiere am 14. September 2022) ist noch bis zum 17. September 2022 im Theater im Delphi zu sehen.

Konzept, Künstlerische Leitung: Antonia Baehr, Jule Flierl. Mit: Werner Hirsch, Jule Flierl. Visuelle Installation: Nadia Lauro. Kostüme: Antonia Baehr, Jule Flierl, Nadia Lauro. Lichtdesign: Gretchen Belgen. Lichtassistenz: Asli Atasoy Öner. Tondesign, -Regie: Carola Caggiano. Technische Leitung: Fine Freiberg. Bühnenmeister: Benni Schröter. Mit Kompositionen von: S. McKenna, Klaus Nomi, Henry Purcell, Jule Flierl, Antonia Baehr. Outside Eye, Dramaturgie: Sabine Ercklentz, Hans Unstern, Luise Meier, Olympia Bukkakis. Kunstwerk: Laura Burns. Textarbeit: Luise Meier. Stimmarbeit: Hanne Schellmann. Administration: Alexandra Wellensiek / make up productions.