„Under my Gaze“ mit Renae Shadler, Mickey Mahar, Dorota Michalak und einer schwebenden Aerocene-Skulptur reflektiert die Sonne in ihrer Rolle als Energieressource und potenzielle Zerstörungskraft. Die Tanzperformance fand vom 28. bis 31. Juli 2022 auf dem Gelände der St.-Elisabeth-Kirche in Berlin-Mitte statt.
Es ist Samstagvormittag und wärmer als ich angenommen hatte. In dem umzäunten Vorhof der St.-Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße nehme ich auf einer Bank am Schotterweg Platz, mitsamt der Kopfhörer, die ich am Eingang erhalten habe. Es ist leicht bewölkt, doch wenn die Sonne hervorkommt, brennt sie auf meiner Haut. Die großen Kopfhörer umschließen meine Ohren. Ein pulsierender, repetitiver Rhythmus übertönt die urbane Kulisse mit den Auto-, Polizeiwagen- und Straßenbahngeräuschen, und überführt mich in einen sonoren, meditativen Kosmos.
Auf der länglichen Rasenfläche vor mir liegt eine anthrazitfarbene Plane, umsäumt von Steinreihen an ihren Kanten. Als die Musik kurz aussetzt, betreten die drei Performer*innen Renae Shadler, Mickey Mahar und Dorota Michalak die Kulisse. Sie tragen kurze, enge, schwarze Kleidung, Socken, fingerlose Handschuhe, goldene Stirnbänder, schmale Sonnenbrillen und Kopfhörer, wie das Publikum. Um ihre Oberkörper liegen Klettergeschirre mit je einer Spule. Langsam um sich selbst drehend, mit gebeugten Knien, bewegen sie sich zur Plane, die ihre Körperlängen überragt. Eine Stimme aus den Lautsprechern entschuldigt sich dafür, zu spät gekommen zu sein – „so catastrophic“. Sie hätte pünktlich kommen können, doch wir teilten nicht die gleiche Zeitschreibung, unsere Stunde sei kürzer. Mittlerweile bewegen sich die Performer*innen synchron auf der Plane. Sie stampfen, wenden sich, heben die Arme empor. Durch die Bewegungen verrutscht die Plane, wirft Falten. Ein Beben durchfährt die Körper, die Bauchdecken pulsieren mit dem Beat, der durch die Ohren in uns dringt. Die Stimme zählt Namen von (Sonnen-)Göttinnen und Göttern verschiedener Kulturen auf, darunter Savita und Aditya. Daraufhin formen auch die drei Performer*innen eine mehrarmige Gottheit, indem sie sich hintereinanderstellen und ihre Arme seitlich auf- und ab bewegen.
An den Haken ihrer Geschirre befestigen die Performer*innen die Enden der Plane, die Musik wird leiser und der Taktschlag verblasst. Sie ziehen das Tuch unter ihren Beinen hindurch, verstecken sich unter ihm und strecken nur kurz ihre Köpfe heraus, mit zum Schrei verzerrten Gesichtern. Die Szene erinnert mich an Kampfdarstellungen in Comics, wenn die Situation unübersichtlich wird und nur noch vereinzelte Gliedmaßen aus einer Wolke hervortreten. Nachdem sie sich aus dem Inneren befreit haben, laufen Renae Shadler, Mickey Mahar und Dorota Michalak die Wiese entlang und ziehen das lange Tuch als Extension hinter sich her, es ist durch dünne Seile an ihren Spulen befestigt. Luft dringt ein durch die Öffnungen, die Sonne erwärmt menschliche und stoffliche Körper. Das Tuch beult sich, hebt ab, steigt in die Höhe. Die zuvor faltige, eindimensionale Oberfläche wird glatt, wird zu einem großen, dreidimensionalen, schwebenden Felsen, der sanft durch die Troposphäre gleitet und Schatten wirft, gefährlich nah an die Baumkronen gerät, doch diese nur streift, um dann frontal auf den Portikus der Kirche zuzusteuern, aber dem goldenen Kreuz gerade noch entkommt.
Im Folgenden wechseln sich Sequenzen in der Luft und am Boden ab, begleitet von der Stimme, die mahnt: „I evaporate the oceans. The heat is melting the grains. I burn out the system.“ Die drei Performer*innen versuchen, den schwebenden polygonalen Stoffberg zu halten, zu bändigen, und orientieren sich gleichermaßen an seinen Bewegungsabläufen. Während er in der Luft gleitet, fließt, sind die Performer*innen am Boden, laufen die Treppe im Portikus hinauf, zwischen den dorischen Säulen hindurch, noch immer gebeugt und mit den Armen von sich gestreckt, ihre Körper krümmen sich, wie die Ecken des Bergs. Sie sind mit ihm verbunden durch die Schnur, sind von ihm abhängig, wie die schwebende Felsskulptur von dem Stand der Sonne und der Wolken. Nach anderthalb Stunden in der heißen Mittagssonne, in welcher die Skulptur wieder und wieder durch die Lüfte schwebt, kehren die Performer*innen langsam zurück zur Rasenfläche, ziehen den Felsen an der Spule zu sich heran, drücken die Luft raus. Schließlich befestigen sie die Plane wieder am Boden. Sie ruht als sei nichts geschehen.
Die anthrazitfarbene Skulptur wurde eigens für die Performance „Under my Gaze“ von der Open-Source-Community Aerocene angefertigt. Die Sonne fungiert hier als Energieressource: Sie erwärmt die Oberfläche der aerosolaren Skulptur und folglich die Luft in ihr, und lässt sie abheben. Hierdurch soll ein neues Verständnis von Mobilität geschaffen werden, die sich nicht weiterer fossiler Energien bedient. Auch die Choreografie von Renae Shadler nähert sich diesem „natürlichen“ Bewegungsspektrum, indem sie sich von den wogenden Fangarmen phototropher Organismen und Hydren hat inspirieren lassen, die auf Sonnenlicht angewiesen sind, um sich entwickeln zu können, und sich ihm stets zuwenden. Ebenso wird die Rolle der Sonne im Klimawandel erwähnt, ihre zerstörerische Kraft, die Flüsse austrocknet und Ernteerträge schwinden lässt. Shadler bezeichnet ihre choreografische Praxis als „Worlding“, die sowohl ökosystemische Forschungsaspekte beinhaltet als auch das Studium der Tanzbewegungen, die sich durch das Wechselspiel zwischen Umwelt und Körperinnerem ergeben. Ein ergänzender Workshop „Moving with Sun<Air<Wind“ findet am 13. August 2022 in Berlin statt.
„Under my Gaze“ von Renae Shadler & Collaborators in Zusammenarbeit mit der Aerocene Foundation wurde vom 28. bis 31. Juli 2022 im Kirchpark der Villa Elisabeth in Berlin-Mitte uraufgeführt.
Konzept, Choreografie, Performance: Renae Shadler | Performance: Mickey Mahar, Dorota Michalak | Komposition: Samuel Hertz | Bühne: Camille Lacadee | Kostüm: Geraldine Arnold | Dramaturgie: Ally Bisshop, Maikon K | Produktion, Distribution: Dörte Wolter | Inspiriert von Susurrus group, 2017-2020: Samuel Hertz, Maria Nurmela, Kalle Ropponen, Renae Shadler