„Wiegenlieder!“, Claudia Garbe ©Franziska Cazanave

Wütende Wiegenlieder

Bertolt Brechts „Vier Wiegenlieder einer proletarischen Mutter“ (1932) dienen der Choreografin Claudia Garbe als Ausgangspunkt für eine tänzerische Interpretation von Mutter*schaft in vier Kapiteln mit den Performer*innen Steffi Sembdner, Virginnia Krämer und Diana Thielen. Die Vorstellungen von „Wiegenlieder!“ fanden vom 14. bis 17. Juli 2022 im Innenhof der Uferstudios in Berlin-Wedding statt.

Bereits das Bühnenbild mit den hellen, aneinander genähten Tisch- und Bettdeckenfetzen, die mit milchigen Flecken übersät sind, erinnert an die kargen, beengten und dunklen Wohnräume der Entstehungszeit der Ballade: Nach dem Börsensturz im Jahr 1929 und der folgenden Wirtschaftskrise bestimmten Armut und Arbeitslosigkeit das Leben in Deutschland – was wiederum die politische Radikalisierung der Bevölkerung und die Errichtung der NSDAP-Diktatur beschleunigte, die ein konservatives, patriarchales Familienmodell propagierte. In dieser Zeit des Hungers entstanden Bertolt Brechts und Hanns Eislers „Wiegenlieder einer proletarischen Mutter“ mit einer Protagonistin aus der sogenannten „Arbeiterklasse“ (nach Karl Marx), die ihre von Armut gezeichnete Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft besingt und dabei ihr geborenes Kind adressiert, dem es einmal besser gehen soll.

Mit diesem transgenerationellen Ansatz bewegen sich die drei Performer*innen Steffi Sembdner, Virginnia Krämer und Diana Thielen in bunten kurzärmeligen und verschmutzten Hemden durch die Bettlakenlandschaft auf Luftmatratzen. Sie springen, wiegen, kuscheln, atmen, singen, summen, stillen, schaukeln imaginierte Säuglinge und werden begleitet durch die Geräusche der luftgefüllten Matratzen beim Hüpfen, von atemluftbetriebenen Melodicas sowie durch den Gesang und die Gesten eines mehrköpfigen Laienchores, der am Rand der Open-Air-Bühne steht. Die Performer*innen nehmen die Plastikschläuche der Melodicas als Nabel- und Trinkschnur, sie streicheln damit zärtlich pustend ihre Haut und führen sie nahezu brutal in ihre Münder ein, kauen auf ihnen herum, albern herum, musizieren, manchmal unterlegt von einem elektronischen Beat. Mutterschaft ist Arbeit rund um die Uhr, ist Versorgung, Bespaßung, Qual und Freud. Mutterschaft ist die Sorgearbeit, von Müttern geschafft, die Mütter schafft, sie erledigen kann, wenn sie nicht geteilt wird. Entlohnt wird sie kaum, obwohl reproduktive Arbeit essentieller Bestandteil gesellschaftlichen Fortbestehens ist, um es in ökonomischem Verständnis auszudrücken. Repetitive Wiegenlieder legen sich über diese Realitäten wie ein sanfter Schleier, der in den Schlaf überleiten soll, und können beeinflussen, durch die Wahl der Worte, die auf das Kind einprasseln. Mitunter sind Wiegenlieder zweideutig wie das bairische Volkslied „Heidschi Bumbeidschi“, das möglicherweise vom Tod erzählt, oder agitatorisch, wie die in dieser Performance zitierten „Wiegenlieder“ von Brecht, die eine didaktische Mission verfolgen, und dem Kind beibringen, fleißig zu sein und sich zur Wehr zu setzen.

Die vier Kapitel der Performance werden durch hochgehaltene Zettel eingeleitet, auf denen Zitate aus den „Wiegenliedern“ stehen, darunter „Als ich dich in meinem Leib trug“ und „Als ich dich gebar“. In den letzten beiden Kapiteln („Ich habe dich ausgetragen“, „Was immer aus dir werde“) beginnen die Performer*innen auf der Bühne, von ihren Erlebnissen in Bezug auf Mutterschaft, von Traumata, Dissoziationen und unbezahlter Sorgearbeit zu berichten. Ihre Stimmen überlagern sich mit denen aus dem mehrköpfigen Chor, werden zu einem lauten Durcheinanderrauschen, untermalt von Disharmonien der Melodica. Im Anschluss treten Chor und Performer*innen vor das Publikum, hocken sich einzeln vor die Zuschauer*innen und monologisieren in intimen Settings von ihren und den Leben ihrer Mütter und Großmütter. Dabei kritisieren sie nicht nur patriarchale Familienstrukturen und den Gender-Pay-Gap, sondern stellen Utopien und Forderungen nach gerechteren Arbeitsteilungen wie Co-Elternschaft und monetärer Unterstützung vor. Auch im Begleitheft der Performance finden sich Zitate der Performer*innen und weiterer Beteiligte, die von ihren Mutterschaftserfahrungen berichten. Dabei wird Mutterschaft nicht binär vermittelt, sondern jenseits heteronormativer Geschlechtsidentitäten. Zum Abschluss singen die Performer*innen zusammen mit dem Chor und Gastperformer*in Dita Scholl die letzten Strophen der „Wiegenlieder“, unter anderem „Was du nicht hast, das gib’ nicht verloren, was sie dir nicht geben, sieh’ zu, dass du’s kriegst“. Obgleich Dita Scholl singend im offenen Bühnenraum verbleibt, bauen die Performer*innen bereits die Kulisse ab. Während der Aufführung passiert vieles gleichzeitig, schnelle Bewegungen und Positionswechsel werden begleitet von atonalen Geräuschkulissen. Mir kommt der Vergleich „chaotisch wie eine Kinderstube“ in den Sinn, obwohl die mythologische Referenz nicht unproblematisch ist, da „chaotisch“ oft allegorisch als „feminines“ Charakteristikum im Gegensatz zur „männlichen“ Ordnung überliefert wird. Im Sinne einer radikalen Praxis zur Umkehr bestehender (androzentristischer) Systeme kann der Begriff jedoch auch queerfeministisch angeeignet werden.

Ich selbst bin keine Mutter und mein Wissen über Mutterschaft stammt daher nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus der Perspektive einer Tochter, Enkelin, Urenkelin, Schwester, Nichte, Cousine, Freundin, Bekannten, Kollegin, Kommilitonin, Nachbarin, Mitbürgerin, Zuschauerin, Leserin, Zuhörerin, Beobachterin. Die Performance „Wiegenlieder!“ von Claudia Garbe hat wieder einmal gezeigt, wie absurd es ist, dass sich Mütter heute, 90 Jahre nach Brechts und Eislers Komposition, noch immer in unbezahlter Sorgearbeit wiederfinden und dabei kaum Anerkennung erfahren. Stattdessen werden Menschen, die gebären, in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen weiterhin marginalisiert, beispielsweise bei der Rückkehr ins Berufsleben nach der Geburt oder bei der gesetzlichen Rente, und ihre Körper und Arbeitskraft systematisch ausgenutzt, reproduktive Rechte und Selbstbestimmung bleiben ihnen verwehrt.[1] Auf dass es die besungenen Kinder einmal ändern mögen. In einer Musiknotation stünde hier nun ein Wiederholungszeichen.

Foto: „Wiegenlieder!“ von Claudia Garbe © Franziska Cazanave


[1] Siehe hierzu auch Silvia Federici „Revolution at Point Zero: Housework, Reproduction, and Feminist Struggle“ (2012).


„Wiegenlieder!“ von Claudia Garbe war vom 14. bis 17. Juli 2022 auf dem Hof der Uferstudios zu erleben.

Choreografie: Claudia Garbe | Performance: Steffi Sembdner, Virginnia Krämer, Diana Thielen | Sound-Performance: Vera Pulido | Dramaturgie: Anja Spitzer, Margret Schütz | Chorleitung: Johanne Timm | Gastperformance: Dita Scholl | Bühne/Kostüm: Michaela Muchina | Chor: Lara Bäucker, Anne Brüning, Flupsi, Victor Isermann, Benedikt Käsbach, Anna Moser, Anna Wasilewski, Rebecca Weimer, Antonia Weise.