„Magenta Haze“, Milla Koistinen ©Ilkka Saastamoinen

Magenta-Rausch

Milla Koistinen erforscht mit „Magenta Haze“ das Verhalten von Individuen innerhalb eines Kollektivs, sowie gemeinschaftliche Ekstase und kollektive Freude. Im Rahmen der :LOVE:-Kooperation zwischen Tanzfabrik und Radialsystem wird die Arbeit vom 2. bis 4. März 2023 als Deutschlandpremiere im Radialsystem präsentiert.

Nachdem sich der Januar und Februar in Berlin wieder mal von ihrer schlechtesten Seite gezeigt haben, sind wohl alle mehr als bereit für Licht, Helligkeit, Farben.

Umso überwältigender fühlt sich das Farbenmeer an, das sich in der unbestuhlten Halle des Radialsystems entfaltet. Drei riesige Stoffbahnen in kräftigem Rot, Orange, Pink, Rosa, Blau und Grün breiten sich aus, an Seilen befestigt unter der Decke hängend oder mit Luft befüllt als bewegliche Riesenballons (Objekte: Sandra E. Blatterer, Bühnenbild/Licht: Michele Piazzi). Acht Tänzer*innen – Raul Aranha, Simon Chatelain, Fanny Didelot, Milla Koistinen, Jin Lee, Elise Ludinard, Nitsan Margaliot, Angelo Petracca – laufen durch den Raum und arrangieren sich und die ballonförmigen Objekte stetig und in Bewegung, das Publikum ist dazu eingeladen, sich mit ihnen im Raum zu bewegen.

Milla Koistinen arbeitet in „Magenta Haze“ mit einer beeindruckend klaren Formsprache an der Grenze von Tanz und Bildender Kunst, mit starken Collagen aus Körper, Raum, Sound und Objekten und mit fein ausgearbeiteten Bewegungsqualitäten. Die Tänzer*innen, gekleidet in dezent farbigen Sneakern, Jeans und Hemden (Kostüm: Jin Lee) durchlaufen verschiedene Körperbilder und Posen, lassen ihre Oberkörper im Gehen immer wieder sanft in den nächsten Freeze-Moment hineingleiten, die Arme ragen locker aber gezielt in die Luft, Hände und Finger zeichnen imaginäre Achsen. Flink zwischen Slow Motion und Zeitraffer wechselnd treiben ihre Körper durch den Raum, als ob sie schnell rennen und sich zugleich in Zeitlupe durch eine zähe Masse hindurchbewegen. Immer wieder setzen sie sich ins Verhältnis zum Rest der Gruppe, zum Publikum und zu den ballonförmigen Stoffobjekten, die sie kollektiv und permanent re-arrangieren. Dabei werden die Objekte zu Co-Performer*innen mit wechselnder Gestalt – mal sind es imposante Ballons, mal bunte Wolken, mal farbenfrohe Tierwesen. 

Die Tänzer*innen bilden einen Schwarm, die Ballons fliegen, alles badet in Pink, Rosa, Orange, Rot, Blau und Grün. Der mitreißende Sound von Grégoire Simon und Paul Valikoski wird komplexer, der Beat der Musik schwillt an, das Tempo der Tänzer*innen geht hoch, immer schneller ziehen und scheuchen sie die riesigen Gegenstände hinter und vor sich her. Eruptive Ausschläge in den Oberkörpern der Tänzer*innen fluten in den Raum, springen teilweise auf die Besucher*innen über, ein Meer wippender Köpfe ist zu sehen, der Raum pulsiert. Die Szenerie schaukelt sich mehr und mehr zum ekstatischen Moment hoch: Die acht Körper formen einen Pulk in der Mitte des Raums, bilden wilde Formationen im dreckigen Unisono, reißen die Arme in die Luft, explosives Bouncen im Oberkörper, Nebel, rotes Licht, buntes Farbenmeer, Technobeat, Clubatmosphäre.

„Magenta Haze“ ist die Weiterführung von Milla Koistinens Forschung zum Individuum innerhalb des Kollektivs und der gemeinschaftlichen Freude und Ekstase. Ekstase als ein Zustand, der uns aus uns selbst herausholt und in ein Anderswo transportiert, ist im Tanz traditionell eine kritische Figur. Mary Wigman formulierte mit ihren Drehtänzen eine Kritik an bestehenden Zuständen, jüngere Arbeiten blicken eher kritisch auf ekstatische Phänomene als Lösung gesellschaftlicher Probleme und in der Rave-Kultur bewegt sich der Körper im Spannungsfeld zwischen solidarischer Gemeinschaft und kapitalistischer Vereinzelung. Diese Uneindeutigkeit innerhalb der Ekstase und ihrer Darstellung (ist sie nun Teil der Lösung oder Teil des Problems?) kann das Publikum je nach choreografischer Setzung auch vor Herausforderungen stellen.

Jedoch schafft es „Magenta Haze“ auf angenehm unaufdringliche Weise und mit einer frischen, konsequenten und affirmativen Formsprache diesen Raum des Außer-Sich-Seins herzustellen, in dem die Besucher*innen ganz selbstverständlicher Teil sind. Und so bilde ich mir beim Fühlen des Beats in meinen Gliedern und beim Anblick der pulsierenden Tänzer*innenkörper und der wippenden Köpfe ein, dass hier eine gemeinschaftliche Erfahrung spürbar wird. 

Beim Verlassen des Raums sehe ich lächelnde und entspannte Gesichter. 

Alle sind sowas von bereit für den Frühling.


„Magenta Haze“ von Milla Koistinen (Uraufführung 27.10.2022 im Dance House Helsinki) wird vom 2.-4. März 2023 im Rahmen der :LOVE:-Kooperation zwischen Tanzfabrik und Radialsystem als Deutschlandpremiere im Radialsystem präsentiert.