„Paradise in Disorder“, Juliana Piquero ©Catalina Fernández

Körniges Paradies

Die Choreografin Juliana Piquero entwirft mit ihrem Stück „Paradise in Disorder“, das am 28. Februar 2023 seine Premiere in den Uferstudios feierte, eine hypersinnliche Welt, die langsam das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zersetzt.

Es glänzt, glitzert und glimmert: Juliana Piqueros „Paradise in Disorder“ im Studio 1 in den Uferstudios wirkt zunächst gar nicht so unordentlich, sondern eher, als hätte jemand die Sinnlichkeitsfrequenzen etwas übersteuert. Spiegelfliesen bedecken zwei Stellen der Bühne wie Magnete, die der ordnenden Anziehung von Gravitationsfeldern erlegen sind — hier deuten sich bereits die vielen unsichtbaren Kräfte der Welt von „Paradise in Disorder“ an. Von der Decke ergießt sich eine auratisch schimmernde Bahn aus zunächst undefinierbarem Material, die sich im späteren Verlauf der Performance als erregend knisternder ASMR-Resonanzkörper erweisen wird. Die drei Performer*innen der Aufführung, zu denen neben Piquero auch die beiden Ton- und Lichtdesigner*innen Catalina Fernandez und Santiago Doljanin gehören, tragen matt leuchtende Leggins (Kostüm/Bühne: Michaela Muchina). Obwohl Fernandez’ und Doljanins die meiste Zeit hinter ihren prominent auf der Bühne platzierten Mischpulten stehen, fungieren sie allein durch ihre Sichtbarkeit als Co-Performer*innen von Piquero. Die meiste Zeit wogen Hintergrundgeräusche durch die Aufführung, manchmal Naturgeräusche wie Vogelzwitschern, Wassertropfen oder Gewitter, und immer wieder Straßenlärm. Alles ist ein bisschen zu laut, zu hell, zu grell — zu wenig, um sich von den Sinnesfluten davontragen zu lassen, zu viel, um es als Hintergrundrieseln auszublenden.

„Paradise in Disorder“ beginnt als Trio zwischen Piquero, Fernandez und Doljanin, die sich zunächst ausschließlich in den Bahnen eines unsichtbaren Koordinatensystems bewegen. Während Fernandez und Doljanin hinter ihre Mischpulte zurückkehren, macht sich Piquero auf, alle weiteren Bereiche der Bühne zu durchstreifen. Das Stück ist ein multimedialer Streifzug durch Tanz, Lecture Performance, Sound-Installation und Konzert, der über psychotische Narrationsweisen die verschiedenen Facetten von aus psychischer Erkrankung resultierender Bewusstseinserweiterung untersucht. Immer wieder kollidieren die verschiedenen Ebenen der Arbeit miteinander — etwa, wenn Piquero die Geschichte einer Person erzählt, der die Alltäglichkeit wie nebenbei durch die Finger rinnt, bis am Ende plötzlich alles aufgebraucht ist und sie in eine Klinik eingewiesen wird. Oder wenn sie, eingehüllt in eine Art schwarz-grünes Leopardenfell, die Bühne als Catwalk benutzt und sich dabei selbst motiviert: „I feel grateful for this day / suddenly everything makes sense“. Das Stück wogt zwischen paradiesischer Psychedelizität und erschöpfender Reizüberflutung hin und her, ohne sich dabei aber ganz der Drift zu einem der Pole hinzugeben.

Etwa kurz nach der Hälfte des Stückes wird das Publikum aufgefordert, die anfangs ausgehändigten kabellosen Kopfhörer aufzusetzen. Durch deren seitliche Leuchtdioden werden die Zuschauenden damit selbst für einen Moment zu Lichtdesigner*innen, die einen Atmosphärenwechsel initiieren. Durch die gleichzeitige Veränderung der Außen- und der Innenwelt fühle ich mich wie ein Träumer in einem futuristischen Traum: Sind die durch die Geräte phosphoreszierenden Köpfe alle mit Piqueros Kopf verbunden, und tauchen wir alle gemeinsam gerade in die Geschichte der Lockführerin Captain Blue ein, die aus den schallgedämpften Ohrmuscheln ertönt? Oder sind die Kopfhörer nur ein Trick, der Synchronizität suggeriert, während tatsächlich jede*r in eine andere Soundwelt hineingeführt wird? So kontinuierlich die Aufführung meine Sinne stimuliert, so sehr wächst bei mir das Misstrauen gegenüber meiner eigenen Wahrnehmung, während sich im Flimmern zwischen Erregung und Paranoia ein Paradies auftut, in dem sich Verheißung und Vertreibung immer weniger unterscheiden lassen.


„Paradise in Disorder“ von Juliana Piquero ist erneut am 26. und 27. März 2023 in den Uferstudios (Studio 1) zur sehen, Tickets unter uferstudios.com.