„LUFT“, Nir de Volff & Theater o.N. ©Bernhard Musil

Die bunte Welt der Leichtigkeit

Am 2. März 2023 feierte „LUFT“, eine Tanzperformance für Menschen ab 3 im DOCK 11 Premiere. Aufgeregt warteten Kleine und Große am Sonntagnachmittag des 5. März auf die letzte Vorstellung dieser Koproduktion von Nir de Volff und Theater o.N. Inky Lee war dabei.

Der Applaus am Ende der Vorstellung verklingt, als mich meine Bekannte rechts neben mir fragt, wie ich das Stück fand. Ich weiß nicht, wie ich antworten soll und zögere. Sie füllt das Schweigen mit der bedeutungsschweren Bemerkung: „Es war ganz schön viel.“ Ich bestätige ihren Eindruck: „Stimmt. 40 Minuten Show und sehr viele Szenen. Vielleicht wollten sie maximal stimulieren, damit die Kinder nicht abgelenkt werden?“ – „Jeder Moment der Performance war ein Highlight,“ kommentiert meine Sitznachbarin. Dieses Gefühl hatte ich auch. Wir erlebten einen sich permanent verschiebenden Fokus und genossen den Reiz vieler Farben und Lichter, die Komposition aus Bewegung, Klang und Textur.

Die Inszenierung beginnt mit friedlichem Vogelzwitschern und einem großen, diffus geformten goldenen Gegenstand aus dünnem Kunststoff links auf der Bühne. Eine Maschine pumpt dunstige Nebelschlangen in den Saal. Mouafak Aldoabl in leuchtend violettem Trikot mit rosa Rüschen an der rechten Schulter windet sich hinter dem Objekt hervor und tanzt. Seine Bewegungen wirken fließend, mühelos, und zugleich virtuos. Er macht einen Handstand. „Wow!“, entfährt es einem Kind. Einige Zuschauende lachen.

Aldoabl geht von der Bühne, Medhat Aldaabl tritt auf. Er trägt einen goldenen Unitard. Seine linke Schulter zieren künstliche Blumen und Gras, seine Bewegungen sind kantig und muskulös. Aldaabl zeichnet die Verbindung zwischen Atmen und Bewegung: Er deutet auf seine Brust, während er hörbar ein- und ausatmet. Dabei nehmen seine Arme die Bewegung seiner Brust auf. Sie werden gleichsam zu ihrem Echo. Ab diesem Moment sind alle seine Bewegungen von lauten Atemgeräuschen begleitet. 

Aldaabl tritt ab, und Renan Manhães erscheint in einem türkisfarbenen, an ein Tütü erinnerndes Dress mit hellblauen Rüschen. They tanzt elegant, im Einklang mit dem eigenen Atem, und strahlt dabei einen Hauch Extravaganz aus. Alle drei Performenden wirken kreatürlich. Sie evozieren in der individuellen Qualität ihrer Bewegung und in ihrem Wesen ganz einzigartige Geschöpfe. 

Auf die drei Soli folgen mehrere Duette und Trios in kurzen Szenen. Bühnenlicht und Musik ändern sich in rascher Folge. Die Bewegungen der Tanzenden sind fast durchgängig üppig, schnell, dynamisch. Einmal füllt sich das goldene Objekt mit Luft und wird als mächtiger Vogel lebendig. Eine Show mit verspielter Anmutung durch und durch. Zuletzt schweben an drei Stellen Seifenblasen von der Decke. Aldoabl, Aldaabl und Manhães tanzen wild unter den drei Pustern. Gewiss sollen die bunten Bubbles die Intensität des Tanzes auflockern, doch in Aldoabl erkenne ich ein Moment emotionaler Finsternis. Diese Offenheit, diese Transparenz im Ausdruck des geradezu selbstvergessen, hingebungsvoll tanzenden Künstlers, die geteilte Verletzlichkeit ohne jede Maske rührt mich an.

Nach der Show sind alle eingeladen, auf der Bühne zu spielen. Als erste folgen die Dreijährigen der freundlichen Aufforderung. Ein paar Erwachsene schließen sich den jüngeren Kindern an. Dann die etwas Älteren. Ich stehe auf der Bühne und beobachte die Kleinen, die ohne jede Scheu Drehungen ausprobieren und herumwirbeln. Ich bin fasziniert davon, wie wenig Angst die Kinder vor Körperlichkeit haben, und wie klug ihre Körper sind. Ich frage mich, wie es um ihre emotionale Sensibilität und Intelligenz steht. Unterschätzen wir ihre emotionalen Fähigkeiten nicht, indem wir ihnen nur Spaß und Spektakel bieten? Würden wir ihre geistige Gesundheit auf dem Weg ins Erwachsensein nicht besser fördern, lehrten wir sie, wie sie ohne Angst dunkle Gefühle zulassen, verarbeiten, anerkennen und Formen finden, sie auszudrücken? Ist das Dunkle und Düstere immer „schlecht“? 

Ich frage Aldaabl, was seine Tanzinszenierung für Kinder ausmacht. Es ist das Leichte, antwortet er mir, der Fokus auf Leichtigkeit. Sie vermeiden bewusst, so erklärt er mir, dunkle Momente oder heftiges Atmen, um den Kindern keine Angst zu machen. Da seine Technik der Verbindung von Atem und Bewegung gern seine dunklen Seiten zum Vorschein bringt, falle es ihm daher wesentlich leichter, für Erwachsene zu tanzen. Ich zweifle: Würden die Kinder das Düstere wirklich nicht ertragen? Aldaabl ist kategorisch: „Nein, das würden sie nicht. Sie sind sehr sensibel.“ Er erläutert mir auch, dass verschiedene Elemente in dieser Performance dazu dienen, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen: die leuchtend bunt lackierten Fingernägel der Performenden, die Beleuchtung, der Vogel… Der Vogel sei im Stück, weil Kinder irgendwie Vögel mögen. Ich höre ihm zu und frage mich, ob er die Dinge nicht zu sehr vereinfacht. Unterschätzt er nicht die emotionale Fähigkeit der Kinder, wenn er aus ihrer Sensibilität die Unfähigkeit, profundere Inhalte zu verdauen schlussfolgert? Doch ich bin kein Kind, kann es selbst nicht beurteilen. Anstatt dem Hang vieler Erwachsener nachzugeben, und zu viel nachzudenken, beschließe ich daher, zu erinnern, was Aldaabl uns als wichtigste Botschaft dieser Produktion mitgibt: Vergiss nicht zu atmen!

In der U-Bahn, auf dem Heimweg, atme ich tief, ein und aus, ein und aus, und erlaube dem Kind in mir, sich an der farbenfrohen Welt zu erfreuen, deren Gast ich sein durfte.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


“LUFT” (3+) von Nir de Volff und Theater o.N. – Premiere: 2. März 2023 im DOCK 11.

Konzept / Choreografie: Nir de Volff/Total Brutal – Performance: Medhat Aldaabl, Mouafak Aldoabl, Renan Manhães – Kostüm: Moran Sanderovich – Musik: Daniel Benyamin – Lichtdesign: Asier Solana – Luftobjekt: Frank Fierke – Künstlerische Projektleitung / Dramaturgie: Vera Strobel.