„Beethoven 7“, Sasha Waltz & Guests ©Sebastian Bolesch

Die Musik rauscht durch die kämpfenden Körper

Der zweiteilige, fast zweistündige Abend “Beethoven 7” von Sasha Waltz & Guests wurde am 11. März 2023 im Radialsystem uraufgeführt. Fragen von Freiheit und gesellschaftlichen Zwängen widmet sich Choreografin Sasha Waltz zur Musik des zeitgenössischen Komponisten Diego Noguera und der Siebten Sinfonie von Ludwig van Beethoven.

I. Diego Noguera “Freiheit/Extasis”

Gefüllt von Nebel wirkt die Halle des Radialsystems wie eine endlose, dunkle Höhle. Auch die Körper der Tänzer*innen, die wie aus dem Nichts auftauchen, wirken verfremdet. Ihre Kostüme aus steifem, transparentem Material verleihen den durchscheinenden Umrissen eine Art Kokon (Kostüm: Federico Polucci). Die Musik von Diego Noguera enthält ein wiederkehrendes Surren und Knirschen. Die Knie der Tänzer*innen fallen mehrfach nach innen; ihre Arme wirken teils als würden sie mit Fäden von der Decke geführt werden. Die Bewegungsqualität hat etwas Ferngesteuertes und Insektenartiges. Das Gesamtbild wirkt wie ein Ausschnitt eines dystopischen Science-Fiction-Films. Mit der steigenden Härte der Musik, steigt auch die Spannung der 14 Tänzer*innen, die nun wie ein Heuschreckenschwarm mit schnellen Bewegungen über die Bühne flitzen. Sie pulsieren, stampfen; man merkt eine Aggression in der Bewegung, die sich auch in der Musik widerspiegelt. Im letzten Viertel des rund 40-minütigen ersten Teils gewinnt das Akustische überhand. Es ist die Art von Sound, die man nicht nur hört, sondern auch spürt, weil er die gesamte Zuschauertribüne zum Beben bringt. Es ist die Art von Musik, die mich in unregelmäßigen Abständen bemerken lässt, dass ich die Luft anhalte; eine Lautstärke und Intensität, die dazu führt, dass der Applaus, der folgt, sich wie ein Flüstern anhört.


Foto: „Beethoven 7“, Sasha Waltz & Guests ©Sebastian Bolesch


II. Ludwig van Beethoven “7. Sinfonie in A-Dur, Op. 92”

Nach einer 30-minütigen Pause trete ich zum zweiten Teil in die Halle des Radialsystems. Der Raum ist nebelfrei. Die Backsteinwand sowie sämtliche Fenster und Feuerlöscher werden im Hintergrund sichtbar. Beethovens 7. Sinfonie ertönt fast leise aus den Lautsprechern. Ich kann die Schritte und den Atem der Tänzer*innen hören, die in beigen Kleidern ausgelassen über die Bühne rennen (Kostüm: Bernd Skodzig). Nach der dystopischen Entfremdung zuvor, macht nun alles einen vertrauten, menschlichen Eindruck. In den ersten zwei Sätzen der Sinfonie wirkt die Choreografie wie eine reine Illustration der Musik: ein luftiger Reigen zum flinken Rhythmus des ersten Satzes und ein Trauermarsch zur schreitenden Gleichmäßigkeit des zweiten Satzes. In den letzten beiden Sätzen kommt eine militärische Geradlinigkeit zum Vorschein. Wiederholt strecken die Tänzer*innen die Arme zur Seite und drehen sich stoßweise um sich selbst. Eine Fahne, die optisch an fließendes Wasser erinnert, wird um und über die 14 Körper geschwungen. Als Symbol für Freiheitskämpfe ist dies zwar visuell effektvoll, dennoch wirkt es neben der immer abstrakter werdenden Choreografie fehl am Platz. Punktuell fallen Bewegungen aus der Geradlinigkeit. Ein Zucken rauscht durch die Körper, als würden sie innerlich einen Kampf austragen. Im letzten Satz der Siebten Sinfonie gewinnt Sasha Waltz’ Choreografie an Stärke. Ein stetiges Anvisieren und kraftvolle Wurfbewegungen kreieren ein aggressives und doch hoffnungsvolles Abschlussbild.

Gemeinsam haben beide Teile eine gewisse Wut. Zu sehen ist eine Gruppe, die sich gegen etwas aufbaut, ein gemeinsames Ziel anstrebt. Für mich geriet die im Programmheft beschriebene Frage nach Freiheit in den Hintergrund. Deutlich wurde jedoch ein Kampf, der im ersten Teil einschüchtert und überwältigt, und im zweiten Teil optimistisch in die Zukunft blickt.


„Beethoven 7“ von Sasha Waltz & Guests kam am 11.03.2023 im Radialsystem zur Uraufführung. Nächste Vorstellungen: 31. August bis 3. September 2023, der Vorverkauf startet voraussichtlich im Juni.

Konzept und Choreografie: Sasha Waltz – Musik: Ludwig van Beethoven, Diego Noguera – Tanz und Choreografie: Clémentine Deluy, Rosa Dicuonzo, Edivaldo Ernesto, Tian Gao, Eva Georgitsopoulou, Hwanhee Hwang, Annapaola Leso, Lorena Justribó Manion, Jaan Männima, Sean Nederlof, Virgis Puodziunas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina, Orlando Rodriguez.