„The Way You Look (at me) Tonight“, Claire Cunningham & Jess Curtis © www.hagolani.com

Lob der Transzendenz und Tragik

In ihrem Jahresrückblick denken die Tanzschreiberinnen Astrid Kaminski und Elena Philipp nach über Körperbilder im Tanz

Astrid: Körper 2016: Wie würdest Du ihn anhand der Tanz-Performances und Choreografien, die Du in diesem Jahr gesehen hast, beschreiben?

Elena: Eine These oder gar Theorie zum “Körper 2016” habe ich nicht. Aber es gab kürzlich eine Woche, die mir unterschiedliche Körperbilder sehr deutlich vor Augen geführt hat: bei Sasha Waltz und Isabelle Schad. In Sasha Waltz’ “Körper” ist es der ‚ganze‘ Körper, der hergezeigt wird. Selbst wenn sich zwei Tänzerinnen die Umrisse ihrer Organe auf die nackte Haut malen, bleibt diese Aufteilung lediglich visuell, liegt dem eine vollständige, unteilbare physische Einheit zugrunde. Mir scheint da sogar eine Angst vor der Zerstückelung eine Rolle zu spielen und damit ein psychologisches Bild des Menschen als verletzlichem biologischem Wesen. Bei Isabelle Schad hingegen ist der Körper ‚nur noch’ Material, das skulptural geformt wird. Eine irgendwie geartete physische oder gar psychische Identität spielt in “Pieces and Elements” keine Rolle. Schads Ziel ist, wenn man der Ankündigung glaubt, die Überwindung eines individuellen Körpers hin zu einer energetischen oder osmotischen Kopplung. Diesen Kontrast fand ich interessant, und da Waltz’ „Körper“ ja nun schon fast 17 Jahre alt ist, ist die Frage, ob sich das Körperbild seither verändert hat oder ob das einfach zwei mögliche Ausprägungen des Blicks auf den Körper sind, die nebeneinander existieren.

Astrid: Das sehe ich, was Isabelle Schad angeht, nicht ganz so. Das Stück würde mit diverseren physischen Identitäten wahrscheinlich kaum funktionieren. In dieser Hinsicht sind sich übrigens beide Stücke sehr ähnlich: Sie bedienen sich am durchtrainierten Tänzer*innenkörper und zeigen diesen auch als solchen.

Elena: In Bezug auf Schad meinst Du vor allem People of Color, die nicht repräsentiert sind? Deinen Hinweis, dass Schad allzu ‚einfarbig‘ arbeitet, fand ich beim Lesen Deiner taz-Kritik wichtig. Das ist der Preis der Abstraktion, individuelle Geschichten auszublenden. Sicher ein blinder Fleck. Aber das würde ja meine Beobachtung nur verstärken: dass sie identitäre Fragen ausklammert?

Astrid: Meine Kritik war an dieser Stelle eher eine Frage und nicht nur auf “weiße” und “schwarze” Körperlichkeiten bezogen. “Pieces and Elements” zeigt eine energetische oder osmotische Kopplung unter Gleichen. Das geht nur bei dominanten, durch alle gleichwertig auszuführenden Bewegungen. In diesem Zusammenhang finde ich bei Mia Habibs Tanz im August-Arbeit “A Song To…” mehr Raum für energetische Kopplungen: Bei ihr entstehen Bewegungsdynamiken und -figuren aus der Energie diverser Körper, die einem mehr oder weniger gemeinsamen Prinzip folgen. Dieses (choreografische) Prinzip kann dann aber auch abgelöst oder überlagert werden durch ein anderes, beziehungsweise zerfallen.

Elena: Die Frage von Dominanz oder Egalität führt mich zu Christoph Winklers “Five Studies on Post-Colonialism”, das wir Anfang Dezember gesehen haben. Hier sollten ja – mit einem durchaus aufklärerischen Gestus – Strukturen weißer Vorherrschaft im als international gerühmten zeitgenössischen Tanz offengelegt (oder entlarvt) werden. Aber Ungleichheiten schleichen sich quasi durch die Hintertür wieder in die „Studies“ hinein: Ich wurde den Eindruck nicht los, dass Winkler die Performer*innen geradezu zur Selbstexotisierung einlädt, vor allem, wenn Ahmed Soura und Naishi Wang in Comedy- oder Battle-Manier Stereotype aufgesagt haben oder Aloalii Naughton Tapu seine “kulturelle Appropriation” von einem Steve-Paxton-Solo mit Haka-Elementen durchsetzt hat. Das bediente Klischees statt sie zu durchbrechen.

Astrid: Diese Skepsis kann ich verstehen. Was ich aber an den “Five Studies” sehr geschätzt habe, war das Spielerische, das bei diesem Thema in letzter Zeit etwas in den Hintergrund gerückt ist. Es ging im Tanz, gerade im Hinblick auf Postkolonialismus- und Identitätsfragen oftmals zu wie in der Politik des Kalten Krieges: Denken und Argumentieren in Lagern. Politische Positionen als Distinktionsgewinn, wie Christoph David Piorkowski das in der taz treffend, wenn auch in etwas anderem Zusammenhang, formulierte. Aber ich will noch einmal zurückkommen zu Waltz und Schad: Eine andere Frage ist die nach der Funktion von tänzerischer Virtuosität. Ich habe mich ja Anfang des Jahres bei den Berliner Tanztagen über ein Comeback von tänzerischem Können gefreut. Adam Linder nennt das, dem Kurator Christian Kobald zufolge, “Reskilling”. Die unerfüllten, sich politisch verweigernden Körper haben wir in den letzten Jahren sehr oft gesehen. Nun darf tänzerisches Können, sofern vorhanden, offenbar auf der Bühne wieder etwas mehr zum Einsatz kommen. Dadurch wird die Frage natürlich umso spannender, welches Körperbild der virtuose Körper transportieren kann. Gab es in dieser Beziehung für Dich Überraschendes?

Elena: Begeistert hat mich hat Yoann Bourgeois’ Gastspiel “Celui qui tombe” bei Tanz im August. Hier hat jemand Techniken und Formate des zeitgenössischen Tanzes mit solchen aus dem Zirkus verwoben: Performt wurde auf einer kipp- und drehbaren Plattform, und aus eigentlich einfach scheinenden Bewegungen wie Rennen, Fallen, Klettern und den immer unterschiedlichen Körper-Konstellationen ist da eine Reflexion über das Menschsein entstanden – über Zusammensein und Vereinzelung, Egoismus und Solidarität. Und eine Körperbeherrschung, wie sie diese Artist*innen haben, sieht man sonst nur im Ballett – dort allerdings als Virtuosität extrem ausgestellt. Bei Bourgeois wurde einem eher beiläufig bewusst, wie trainiert diese Körper sind, wenn jemand in rasendem Tempo über liegende Körper springt oder minutenlang in schwindelnder Höhe mit nur einem Arm an der Plattform hängt.

Astrid: Das Stück von Bourgeois war so ziemlich das einzige, was ich bei Tanz im August verpasst habe. Mir scheint, dass hier Existenz als Kraft- und Solidaritätsakt verhandelt wurde, das heißt, dass virtuose Körper nicht in erster Linie ausgestellt wurden, sondern für eine Energie des (Über-) Lebens standen. Trotzdem sehe ich, durch das, was mir erzählt wurde, ein Prinzip des Survival of the Fittest vor mir, also Überleben durch Bizepseinsatz?

Elena: Das mit der Energie des (Über-)Lebens stimmt auf jeden Fall. Aber eine Ideologie des Survival of the Fittest konnte ich darin nicht entdecken. Die Hängepartie hat eher die Verletzlichkeit auch des Fittesten gezeigt und wurde von den anderen Darsteller*innen gestisch-mimisch sehr empathisch begleitet. Insgesamt fand ich „´“Celui qui tombe” einen sehr positiven Entwurf des Menschseins – etwas, das man angesichts der momentanen Entzivilisierung im politischen und gesellschaftlichen Miteinander gar nicht genug wertschätzen kann.

Astrid: Ja. Diese Entzivilisierung wird ja seltsamerweise bislang nur wenig im Tanzbereich thematisiert. Ich frage mich, wieder mehr an das Reskilling anknüpfend, ob ein virtuoser Körper überhaupt für einen schwachen, behinderten, chronisch-schmerzhaften, von Minoritätsmerkmalen geprägten Körper (oh je, diese Kategorien sind furchtbar) stehen beziehungsweise einstehen kann? Beliebtes Hassobjekt unter Performer*innen mit „Behinderung“ ist ja Marie Chouinard, das haben wir bei “The Way You Look (At Me) Tonight” von Claire Cunningham und Jess Curtis auch wieder gehört. Ich denke vor allem an Chouinards letztjähriges Tanz im August-Stück “Soft virtuosity, still humid, on the edge”. Dort sah es so aus, als machten hochvirtuose Tänzer*innen spastisch Gelähmte und Menschen mit kognitiven Behinderungen nach. Ähnliche Vorwürfe gab es früher an Alain Platel, obwohl in beiden Fällen die Absicht vielleicht nicht schlecht war, sondern im Gegenteil ein echtes Interesse an anderen körperlichen Abläufen spiegelte. Ich überlege gerade, ob mir Stücke einfallen, in denen andere Körper repräsentiert werden, ohne dass sie selbst auf der Bühne erscheinen und ohne dass sie nachgeahmt werden. Fällt Dir dazu was ein?

Elena: Schwierig insofern, als in dem, was Du oben beschreibst, meist die Wertung mitschwingt, dass der eine Körper dem anderen überlegen sei: virtuos versus behindert? Das impliziert Machtverhältnisse, die meines Erachtens nicht hintergehbar sind – es wird immer eine Anmaßung sein, einen im Allgemeinen als “schwächer” angesehenen Körper zu repräsentieren, dessen Erfahrung man nicht teilt. Aber wenn ich “anders” neutraler verstehe, eher an eine Verschiebung auf einer horizontalen Achse denke, dann fallen mir durchaus Beispiele ein: Colette Sadler hat bei der Tanznacht mit einem ‚erweiterten‘ Körper experimentiert, indem sie sich ein drittes Bein und einen dritten Arm angeschnallt hat. Das war in seiner Wirkung verrückt, fast wie die Gummihand-Illusion: irgendwie gehörten diese Schaumstoff-Extensionen zu ihrem Körperschema, und zugleich wirkten sie ungeheuer fremd. Auch Claire Vivianne Sobottke spielt mit dem Anderssein, aber eher performativ oder gar theatral. Sie verkörpert unterschiedlichste (weibliche) Rollenbilder – Amazone, Punk, Operndiva, Unschuldsmädchen – und macht damit deutlich, dass ein Körper in Ausdruck und Wahrnehmung nicht festgelegt ist, also anders sein kann als man sich das vorstellt. Das finde ich ein sehr anregendes, ebenfalls ‚erweiterndes‘ Projekt.

Astrid: Es geht auf jeden Fall nicht um eine Wertung, die ich hineingeben will. Vielmehr um eine gesellschaftspolitische und auch ästhetische Kategorisierung. Ich sage ja nicht, dass ich finde, ein Körper, der Merkmale von „Behinderungen“ aufweist, könne nicht virtuos sein. Das Gegenteil beweisen (obwohl: beweisen muss man das natürlich gar nicht) etwa Claire Cunningham, Annie Hanauer und Maria Tembé. Allerdings muss man auch ehrlich zugeben, dass wir, was Ausbildungsmöglichkeiten für Performer*innen mit “Behinderungen” angeht, gerade im Bereich des Tanzes, also in einem Bereich, in dem der Zustand des Körpers eine unmittelbare Rolle spielt, leider noch längst nicht im Bereich des Wünschenswerten, noch nicht einmal dem des Möglichen sind. Insofern ist Virtuosität in dieser Beziehung auf einem anderen Stand. Ich denke, eine Option, inklusiver zu arbeiten, besteht in einer Praxis des “Tunings” – das nenne ich jetzt einfach mal so. Damit meine ich zum Beispiel die Arbeiten von Deborah Hay (die mir in manchen Aspekten vielleicht zu eintönig sind, aber das mal beiseite) und Angela Schubot. Sie arbeiten stark mit imaginären Praktiken, die im engen Bezug zu Körperrealitäten stehen, den Körper für die Umgebung öffnen und beides ineinander fließen lassen. Damit zeigen sie, dass Bewegung und Wahrnehmung, Tanz und somatische Praxis kombinierbar sind – was, wie wir wissen, ziemlich oft unmöglich scheint. „Tuning“ – noch mehr konkret-imaginäre Räume zu öffnen, statt bloßer Realismus, statt Körpern, die immer nur für sich selbst stehen müssen – wäre vielleicht eine Perspektive. Genauso wie Virtuosität für mich, jenseits von Body Politics, eine Berechtigung hat.

Elena: Mir fällt als ein Beispiel des umgebungsoffenen Körpers auch Meg Stuart ein. Ihr “Until Out Hearts Stop” war für mich eines der Highlights des vergangenen Jahres. Was die Virtuosität betrifft: Ich stehe einer technischen Kunstfertigkeit sehr skeptisch gegenüber, die negiert, dass auch Top-Handwerk und schöne Stories immer gesellschaftliche und politische Bezüge transportieren. Das betrifft zum Einen die Frage, welche Körper als erstrebenswert gezeigt werden: sehnig-muskulös, fettfrei, faltenlos. Das ist auch eine Form des ‚Tunings‘, in einem anderen Sinne als Du das Wort verwendet, eher mit dem Autotuning verwandt. Seltsam irreale Körper sind das mitunter, das ist mit beim Dance On*-Ensemble sehr aufgefallen. Den Tänzer*innen wird das Etikett “alt” aufgepappt, und zugleich tanzen dort extrem durchtrainierte Körper, in ihren Proportionen sehr ähnlich, fast wie in einem Showensemble. Und was zum Anderen die Inhalte betrifft: Eine sehr bequeme ‚Entleerung‘, das Wegdelegieren inhaltlicher Verantwortung, sehe ich immer wieder beim *Staatsballett Berlin, das auf seiner klassischen Technik und den vermeintlich unschuldigen Geschichten beharrt. Da verlegt dann Nacho Duato den ersten Akt seines “Nussknackers” in die Revolutionszeit – und blendet jegliche gesellschaftliche Verwerfung aus. Er zeigt eine Großbürgerweihnacht, bei der Geschwisterrivalitäten das einzig Unharmonische sind. Und wenn er den Kampf der Mäuse und Zinnsoldaten als den zwischen Fliegerstaffel und Infanterie inszeniert, dann wirkt das verfehlt-harmlos, weil an nichts Substanzielles angeknüpft wird. Virtuosität gibt’s für mich nicht ohne Kontext oder Subtext, und der interessiert mich meist mehr.

Astrid: Ich bin ein großer Fan von Virtuosität. Ich sehe darin einen sehr wichtigen Schlüssel zu schöpferischer Fantasie, ein weiterer wäre Konzentration. Meg Stuarts “Until Our Hearts Stop” gefiel mir auch sehr, meines Erachtens hat sie beide Schlüssel parat. Mir gefiel auch die Bewegungsphantasie von Wang Ramirez in “Everyness” und Anne Theresa de Keersmaekers “Golden Hours” mit den Sprachgesten, wenn auch (bewusst?) naiv und unfertig. “You’d be surprised at my degree of uncertainty” (Brian Eno), heißt es da wohl nicht umsonst. Ein Motto zum Andocken.

Elena: Zur Frage der Body Politics würde ich übrigens gerne noch mehr von Dir hören.

Astrid: Achtung, das wird jetzt ein Ausbruch. Ich habe Body Politics, oder eher: stilisierte politische Körper und Leute, die, statt sich politisch zu engagieren, auf die Bühne gehen, derzeit ziemlich satt. Mich interessiert der ganze Identitätsscheiß im privilegierten Kontext, egal ob von rechts oder links (nein, nicht egal) kaum mehr. Mich interessieren mehr, wie ich ein echtes Interesse an Menschen entwickeln kann, die unter ganz anderen Umständen leben (müssen) als ich, oder die kranken Menschen meiner Umgebung in ihrer Panik und Einsamkeit oder der Typ, der seit Monaten vor dem Einkaufszentrum sitzt, den Kopf fast bis in den Schritt hängen lässt, dahinter eine Bierflasche, davor ein Schild, “Bitte Geld für eine Fahrkarte nach Lettland – 50 Euro”. Der sogenannte politische Blick auf den Körper verhindert oftmals die Frage, was es heißt, ein Körper zu sein: auf Krankheiten, Depressionen, Unterdrückung, Traumata, Aggressionen und den Umgang damit. Hast Du 2016 einen depressiven Körper auf der Bühne gesehen?

Elena: Spannende Frage. Sehr offensichtlich habe ich so etwas kürzlich bei MS Schrittmacher gesehen – Körper, die aufgrund von verdrängten Schuldgefühlen zucken und sich winden, weil Wohlstandskonsum auf der Nordhalbkugel Leid im Rest der Welt verursacht. Sicher ein wichtiger Punkt, aber in der gezeigten Oberflächlichkeit kaum ernst zu nehmen. Vielschichtiger fand ich den gepeinigten, aber zugleich widerständigen und widerstandsfähigen Körper von Silvia Calderoni in MOTUS’ “MDLSX”. Thematisiert wird in der autobiographischen Literaturadaption – die Folie für ihre Erzählung bildet Jeffrey Eugenides’ “Middlesex” – das Ringen um ihre geschlechtliche Orientierung. Narrativ und visuell ist das gut gemacht. Was ich aber besonders eindrücklich fand, war ihr Körper selbst: zugleich muskulös und ausgemergelt, sehr energiegeladen, aber mit extrem nach vorne gezogenen Schultern, als manifestiere sich dort physisch ein Wegducken oder Verstecken (was vermutlich auch ein Vor- oder Fehlurteil ist)… Einen Körper von dieser Widersprüchlichkeit – zugleich fragil und resilient – habe ich selten gesehen auf einer Tanzbühne.

Astrid: Mir fallen Michelle Mourras “Fole” und Jeremy Wades “DrawnOnward” ein. Ersteres eine Selbstauflösung und zweiteres ein Mensch mit einem Körper, der sich ganz in die Konsum- und Vermarktungsmaschine einspannen lässt – sozusagen aus Mangel an Gegenargumenten zum Optimierungswahn – und der dabei zwischen Hilfsbedürftigkeit, Seelenlosigkeit und Boderline-Sympomatik hin- und herumgeworfen wird.

Elena: Klingt auch nach einem Körper als Symptom – allerdings performt: Bei Calderoni schien das ihr Alltagskörper zu sein, der Körper, mit dem sie lebt. Ich komme von den Körperpolitiken nicht weg, merke ich. Mir fiel gerade Niv Acostas “Discotropic” als ein Gegenmodell zu MOTUS ein: stählerne Leiber, unnahbar. Ideale Projektionsflächen von Begehren, die diese (Schau-)Lust performativ erregen und ihre Berechtigung zugleich vehement von sich weisen. Ebenfalls eine Ambivalenz, aber ganz anders gelagert.

Astrid: Es ist für mich immer fragwürdig, wenn Choreograf*innen oder Performer*innen zu reinen (politischen) Diskursvollstrecker*innen werden, ohne dass das an eine tiefere ästhetische Prägung angeschlossen ist. Ein Beispiel aus einem anderen Kontext: Man könnte ja zur Subjekt-Objekt-Geschichte auch Bruno Schulz oder Victor Hugo zitieren statt immer nur Karen Barad und Jane Bennett. Wenn Diskursmaterial nur noch zum Code, zum Merchandising der eigenen Aktualität taugt, dann ist der Diskurs eigentlich gestorben. Gibt es für Dich so etwas wie die “ästhetisch eigenständigsten” Arbeiten des Jahres?

Elena: Meg Stuart ist für mich eine der eigenständigsten Choreografinnen, die ich kenne – sie hat sich wirklich sehr tief in ihr Universum gegraben, ohne den Kontakt zur Welt zu verlieren. Und, auch wenn ich die aktuelle Arbeit “KHAOS” für eher missglückt halte: auch Laurent Chétouane arbeitet meines Erachtens recht unabhängig von irgendwelchen Tanz- und Diskursmoden, obwohl er mit Jean-Luc Nancy ja ständig auf einen Philosophen Bezug nimmt. Weil wir es gerade von Ambivalenzen hatten: Mir ist soeben die Komik bei Chétouane aufgegangen, eine sympathische Komik, nicht unfreiwillig. Da sind diese sich offenen Mundes und sehnenden Auges in die Vertikale streckenden, auf Transzendenz ausgerichteten Körper – die über die Bühne stolpern und taumeln wie Verirrte… Das erinnert schon an Charlie Chaplin oder Thales von Milet, der beim Sternegucken in den Brunnen fällt.

Astrid: Da kann ich mich anschließen, wobei man der Berliner Szene ja im Gesamten gerade durch ihre Art des Durchdeklinierens von bestimmten Diskursen eine unvergleichliche Eigenständigkeit bescheinigen muss – so eigenständig, dass der Rest der Welt nur mit dem Kopf schütteln kann. Ich möchte an Persönlichkeiten, auch wenn schon zuvor erwähnt, noch Angela Schubot hinzufügen, Adam Linder in seiner Verbindung von Konzepttanz und Choreografie, Kareth Schaffer, die die Twilight-Zone von Kunst und Miteinander auslotet, und Kat Válastur. Auch ihr jüngstes Stück für Dance On war in meinen Augen nicht so gut wie die vorangehenden Arbeiten, aber ich schätze sie als jemanden, die es schafft, Komplexität und Konzentration, Instabilität und die Stetigkeit einer Fragehaltung zusammen zu führen. Ich habe immer darauf gehofft, das Mission-Statement von ihrer Webseite einmal irgendwo zitieren zu können. Ich tue es jetzt, hier die ersten drei Sätze, die, wie ich finde, ganz gut zu unserem Gespräch passen: “The body in the choreographic process, trying to reach perfection, remains incomplete. A body in the process of transcending cannot be but a tragic body. Knowing that, I choose to praise it.”