„tempus fugit“, Toula Limnaios © Dieter Hartwig

Fliehet, Ihr Zeiten

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Düster-Dystopisches präsentiert die cie. toula limnaios mit “tempus fugit”

Das ist’s: das Stück zur Stunde. Furcht, Zerfall, Vereinzelung zeigt die neue Choreografie der cie. toula limnaios. Dystopisch ist die Bühennwelt, in der die Figuren herumirren wie im Suchen schon Verlorene. Verstimmte Körper, die von unbeherrschbaren, ihnen fremden Impulsen hin- und hergezerrt werden, in unnatürliche Posen gezwungen wie Puppen. “tempus fugit” hat Toula Limnaios ihr neuestes Werk genannt – nach Vergils Mahnung, beim eigenen Tun die unaufhaltsam verrinnenden Stunden zu bedenken. Die Zeit wird knapp, darauf können sich pessimistisch und realistisch Gestimmte derzeit verständigen. Und Untergangsprophet*innen dürften sich von der beklemmenden Tanzszenenfolge bestärkt fühlen: Sind wir nicht alle zu Recht ein bisschen paranoid?
Gesichter und Extremitäten mit Erde bestrichen, die Körper in blassfarben-unkleidsame Trenchcoats oder Hängemäntelchen gehüllt, die Füße in Stiefeln, wälzen sich die sieben Tänzer*innen nacheinander in das staubende Laub auf der Bühne. Einstimmend in eine synchrone Bodenchoreografie aus Rollen, Schulterstand, starrem Umkippen und jähem Aufsetzen, wie seltsam ferngesteuerte Instrumente in eine bizarre Orchester-Variation. Ihre Fäuste an die Ziegelrückwand hämmernd, in ruckartigen Arm- und Oberkörperposen festhängend wie in der Zeitschleife wirken die stumpfsinnigen Sieben in der Szene danach wie desorientierte Dummies oder hilflose Held*innen. Ist’s eine Gruppe Untoter oder eine Abordnung fehlprogrammierter “Stepford Wives”? Ein satirischer Zug ist dem “Thriller”-Treiben nicht abzusprechen; ich denke an einen Tarantino-ähnlichen Genremix: “Pina Bausch, Vampirjägerin”.
Das Bewegungsmaterial wird in der folgenden Stunde Tanztheater in Gruppen- oder Solovariationen variiert: das Rucken und Beben, Verbiegen und Knicken, das Schleudern und Schlingern. Ellbogen drehen sich wie Maschinenteile, Köpfe arretieren wie kybernetisch fehlgesteuert und Finger tippen zwanghaft Smombie-artig auf unsichtbare Tastaturen. Immer wieder sinken die Tänzer*innen abrupt hintenüber wie Roboter mit gekappter Stromversorgung. Aber nicht nur eine technoide Zukunftsvision könnte es sein, die hier abgespult wird wie ein Horrorfilm – auch an ein archaisches Ritual der Dämonenaustreibung oder einen Tanzklassiker wie das “Frühlingsopfer” erinnern das gemeinsame Stampfen, die starren Gesichter, die zuckenden Glieder.
Brüche und Verfremdungen wie in der Choreografie setzt auch Ralf R. Ollertz für seinen Soundtrack ein. Er zitiert Mahler (den derzeit angesagten musikalischen Untergangspropheten) und Haydn (einen eher lebenszugewandten Klassiker), mal in Loops, mal gedämpft wie hinter einer Milchglasscheibe und verfremdet durch industrielle Klänge – Schläge gegen Metallrohre oder pneumatische Sauggeräusche. Als Momentberuhigung spielt er auch ein Grillenzirpen ein, das gängige akustische Äquivalent eines (trügerisch) friedlichen Sommerabends. Doch Frieden und Harmonie liegen hier fern.
In einer Voodoo-artigen Sequenz wird das puppenhaft Künstliche ‚wirklich’ durchgespielt. Unterm Laub greifen die Tänzer*innen eine Kleinkindpuppe, an der sie abwechselnd anatomisch Abartiges vollführen, sie brutal verbiegen, aufs Gesicht und den Rücken schmeißen. Diese menschenunmöglichen Bewegungen versuchen die übrigen Tänzer*innen vom Puppenkörper abzunehmen, federn die Stürze aber ‚natürlich’ ab, schleudern die Köpfe ihrer Tanzpartner*innen sanfter herum als den Plastiktorso, um einander nicht zu verletzen. Notwendig ist das, aber es mindert die Wirkung der Gewalt – ein theatraler Dämpfer, der sich hier dem (allerdings nicht ganz klaren) Inhalt der Szene gegenüber als irritierend unstimmiges Mittel erweist.
Eine gewaltvolle Ruptur (als Sinnbild einer welthistorischen Zäsur?) lässt sich im Modus des theatralen Als-ob nur bedingt abbilden. Irgendwo beginnt und endet eine Performance, und Toula Limnaios scheint ihre reich bestückte Assoziationsfolie vor allem zu Ende malen zu wollen. Ob rundende Geschlossenheit zum dramaturgischen Gebot der Stunde erklärt werden kann? Dennoch wirkt das letzte Bild. Wenn schlussendlich einer der Tänzer hohllachend auf die Körper seiner Kolleg*innen tritt als seien sie bloßes Fleisch, kann man den Schauder nicht abwehren: Das wirkt wie der leibhaftige Kommentar auf die Massaker in Aleppo und ihre höhnisch-eiskalten Täter.