Düster-Dystopisches präsentiert die cie. toula limnaios mit “tempus fugit”
Das ist’s: das Stück zur Stunde. Furcht, Zerfall, Vereinzelung zeigt die
neue Choreografie der cie. toula limnaios. Dystopisch ist die
Bühennwelt, in der die Figuren herumirren wie im Suchen schon Verlorene.
Verstimmte Körper, die von unbeherrschbaren, ihnen fremden Impulsen
hin- und hergezerrt werden, in unnatürliche Posen gezwungen wie Puppen.
“tempus fugit” hat Toula Limnaios ihr neuestes Werk genannt – nach
Vergils Mahnung, beim eigenen Tun die unaufhaltsam verrinnenden Stunden
zu bedenken. Die Zeit wird knapp, darauf können sich pessimistisch und
realistisch Gestimmte derzeit verständigen. Und Untergangsprophet*innen
dürften sich von der beklemmenden Tanzszenenfolge bestärkt fühlen: Sind
wir nicht alle zu Recht ein bisschen paranoid?
Gesichter und Extremitäten mit Erde bestrichen, die Körper in
blassfarben-unkleidsame Trenchcoats oder Hängemäntelchen gehüllt, die
Füße in Stiefeln, wälzen sich die sieben Tänzer*innen nacheinander in
das staubende Laub auf der Bühne. Einstimmend in eine synchrone
Bodenchoreografie aus Rollen, Schulterstand, starrem Umkippen und jähem
Aufsetzen, wie seltsam ferngesteuerte Instrumente in eine bizarre
Orchester-Variation. Ihre Fäuste an die Ziegelrückwand hämmernd, in
ruckartigen Arm- und Oberkörperposen festhängend wie in der Zeitschleife
wirken die stumpfsinnigen Sieben in der Szene danach wie desorientierte
Dummies oder hilflose Held*innen. Ist’s eine Gruppe Untoter oder eine
Abordnung fehlprogrammierter “Stepford Wives”? Ein satirischer Zug ist
dem “Thriller”-Treiben nicht abzusprechen; ich denke an einen
Tarantino-ähnlichen Genremix: “Pina Bausch, Vampirjägerin”.
Das Bewegungsmaterial wird in der folgenden Stunde Tanztheater in
Gruppen- oder Solovariationen variiert: das Rucken und Beben, Verbiegen
und Knicken, das Schleudern und Schlingern. Ellbogen drehen sich wie
Maschinenteile, Köpfe arretieren wie kybernetisch fehlgesteuert und
Finger tippen zwanghaft Smombie-artig auf unsichtbare Tastaturen. Immer
wieder sinken die Tänzer*innen abrupt hintenüber wie Roboter mit
gekappter Stromversorgung. Aber nicht nur eine technoide Zukunftsvision
könnte es sein, die hier abgespult wird wie ein Horrorfilm – auch an ein
archaisches Ritual der Dämonenaustreibung oder einen Tanzklassiker wie
das “Frühlingsopfer” erinnern das gemeinsame Stampfen, die starren
Gesichter, die zuckenden Glieder.
Brüche und Verfremdungen wie in der Choreografie setzt auch Ralf R.
Ollertz für seinen Soundtrack ein. Er zitiert Mahler (den derzeit
angesagten musikalischen Untergangspropheten) und Haydn (einen eher
lebenszugewandten Klassiker), mal in Loops, mal gedämpft wie hinter
einer Milchglasscheibe und verfremdet durch industrielle Klänge –
Schläge gegen Metallrohre oder pneumatische Sauggeräusche. Als
Momentberuhigung spielt er auch ein Grillenzirpen ein, das gängige
akustische Äquivalent eines (trügerisch) friedlichen Sommerabends. Doch
Frieden und Harmonie liegen hier fern.
In einer Voodoo-artigen Sequenz wird das puppenhaft Künstliche
‚wirklich’ durchgespielt. Unterm Laub greifen die Tänzer*innen eine
Kleinkindpuppe, an der sie abwechselnd anatomisch Abartiges vollführen,
sie brutal verbiegen, aufs Gesicht und den Rücken schmeißen. Diese
menschenunmöglichen Bewegungen versuchen die übrigen Tänzer*innen vom
Puppenkörper abzunehmen, federn die Stürze aber ‚natürlich’ ab,
schleudern die Köpfe ihrer Tanzpartner*innen sanfter herum als den
Plastiktorso, um einander nicht zu verletzen. Notwendig ist das, aber es
mindert die Wirkung der Gewalt – ein theatraler Dämpfer, der sich hier
dem (allerdings nicht ganz klaren) Inhalt der Szene gegenüber als
irritierend unstimmiges Mittel erweist.
Eine gewaltvolle Ruptur (als Sinnbild einer welthistorischen Zäsur?)
lässt sich im Modus des theatralen Als-ob nur bedingt abbilden. Irgendwo
beginnt und endet eine Performance, und Toula Limnaios scheint ihre
reich bestückte Assoziationsfolie vor allem zu Ende malen zu wollen. Ob
rundende Geschlossenheit zum dramaturgischen Gebot der Stunde erklärt
werden kann? Dennoch wirkt das letzte Bild. Wenn schlussendlich einer
der Tänzer hohllachend auf die Körper seiner Kolleg*innen tritt als
seien sie bloßes Fleisch, kann man den Schauder nicht abwehren: Das
wirkt wie der leibhaftige Kommentar auf die Massaker in Aleppo und ihre
höhnisch-eiskalten Täter.