„5 Studies on Post-colonialism“, Christoph Winkler © Dieter Hartwig

Privilegien aufgeben

Als mehrteiliges Manifest gegen westliche (Tanz-)Vormacht präsentiert Christoph Winkler seine “Five Studies on Post-Colonialism” in den Sophiensaelen

Ein Trendthema zu bedienen und zugleich dem choreografischen Chic zu trotzen: das ist die Stärke von Christoph Winkler, der seit 1998 unermüdlich Stück um Stück auf die Berliner Bühnenbretter zimmert. Mit “Five Studies on Post-Colonialism” schließt er, wie schon mit dem von ihm erdachten “Witch Dance Project”, zeitgemäß an die Weiterung der westlichen Wahrnehmung an, die mit dem Projekt Postkolonialismus zu begreifen lernt(e), dass die US-europäische Weltsicht nicht die einzig gültige ist. Gespür für Zeitgeist und formaler Eigensinn kennzeichnet auch die “Five Studies”. In drei der fünf Halbstünder wird ‚nur’ getanzt – erfrischend in der eher Performance-lastigen Berliner Tanzszene. Die anderen beiden Stücke spielen in Comedy-Manier mit verbalem Stereotyp-Schlagabtausch, und doch steht auch dort die Bewegung im Zentrum.

Kalauernder Klischee-Kontest
Eine Battle liefert sich in “Study 5: The Lion and The Dragon” der Winkler-Veteran Ahmed Soura, der schon in “Hauptrolle” oder “Dance Is Not Enough” seinen an afrikanischem wie europäischem Tanz geschulten Stil beweisen konnte, mit dem sowohl in chinesischen als auch zeitgenössischen westlichen Techniken ausgebildeten Naishi Wang, der ebenfalls schon öfter mit Winkler gearbeitet hat. Aufhänger für das Duett ist die Wirtschaftskooperation zwischen Afrika und China. Ist es aussagekräftig, dass Afrika wieder einmal undifferenziert als ganzer Kontinent einem investierenden oder: neokolonialistischen Land gegenübergestellt wird? Jedenfalls erklären Wang und Soura wie im Schulunterricht, dass China Straßen, Krankenhäuser und Flughäfen baut, die es clevererweise nur an die jeweiligen Landesregierungen vermietet statt sie zu verkaufen oder zu übereignen, und dafür Rohstoffe wie Erdöl, Baumwolle oder Koltan erhält. China wirbt zudem afrikanische Arbeitskräfte an – was Soura und Wang zum kalauernden Klischee-Kontest anregt: Chinesen arbeiten nur und genießen ihr Leben nicht, provoziert Soura; Afrikaner sind zu laut und haben keine Familienwerte, kontert Wang. Und während die zwei Tänzer zu den Gemeinplätzen singen und beatboxen, lässt sich “afrikanisches” und “asiatisches” Bewegungsvokabular einer vergleichenden Studie unterziehen: Souras rhythmisch komplexe Schritt- und Isolationstechnik, mit Betonung der Schultern und wie um das Körperzentrum nach vorne gewölbten Flanken und Extremitäten; Wangs Trippelschritte und weich geschwungene, fließende Armbewegungen mit extrem artikulierten Händen, die visuell als “asiatisch” vertraut sind.

Selbstexotisierung statt Strukturaufdeckung?
Dieser Vergleich kultureller Körperprägungen ist fesselnd – aber es brandet ein Verdacht an: liegt diesem komisch-didaktischen Tanznarrativ nicht eine Selbstexotisierung der beiden Tänzer zugrunde? Eine Betonung von Klischees statt, wie vehement angekündigt, eine Aufdeckung weißer Vorherrschaft und postkolonialer Strukturen im zeitgenössischen Tanz? Ähnliche Gedanken weckt “Study 4: Dancing Like a White Guy – The Goldberg Variations (dedicated to Steve Paxton)”, in der Aloalii Tapu eine strukturierte Improvisation von Paxton aus dem Jahr 1986 nachempfindet. Dabei durchschießt er das unterspannte postmoderne Idiom immer wieder unvermittelt mit hochenergetischen Haka-Moves: veritable physische Feuerwerke, mit aufgerissenen Augen, gebleckter Zunge, gespanntem Nacken und aggressiven Lautungen. Diesem atemberaubenden Kontrast gewinnen Winkler und Tapu choreografisch jedoch nicht mehr ab als den Überraschungseffekt. Und auch wenn die Tänzer*innen als Ko-Kreateure genannt sind, meint man doch die Handschrift des weißen Choreografen allzu deutlich wahrzunehmen: Das Verbleiben im Ungefähren und eine mitunter bequeme Effektorientierung ist ein Manko nicht weniger Arbeiten von Winkler. Die eigenen Privilegien auf diskursive oder in diesem Fall choreografische Rahmung aufzugeben, scheint nach wie vor nicht einfach.

Selbstbewusstes Plädoyer für Hybridisierung                                                                               Interessanterweise sind es vor allem die beiden an den “Five Studies” beteiligten Frauen, deren Beiträge künstlerische Unabhängigkeit atmen. Eindrucksvoll ist das Solo der in der Berliner Urban Dance- und Voguing-Szene offenbar bestens beleumundeten Raha Nejad. In “Study 3: Persian Hair” überblendet sie zu Techno-Beats filigrane persisch-orientalische Hand- und Schrittkombinationen mit kraftvoll-massiven Club Moves, lässt ihr Haar und die Handgelenke ebenso kreisen wie ihre Hüften. Frisch und ungewöhnlich wirkt “Persian Hair” im Kontext der zeitgenössischen Tanzszene, sehr eigenständig und nicht zurechtgebogen auf das Thema Postkolonialismus, obgleich es lesbar ist als ein selbstbewusstes Plädoyer für Hybridisierung.

Analytisch ergiebig und formal überzeugend ist “Study 2: Seeing Alvin Ailey” mit Dominique Rosales und Ahmed Soura. Hier gelingt eine Debatte mit tänzerischen Mitteln, gestützt durch den Ankündigungstext: Schwer nachvollziehbar findet Ahmed Soura Alvin Aileys “Umweg” über das Ballett, um “seine afro-amerikanischen Identität auszudrücken”. Dominique Rosales wiederum hat “Revelations” getanzt, diesen frühen Klassiker der Alvin Ailey Dance Company, Repertoirestück des ikonischen Ensembles seit 1960. Wenn Rosales und Soura einzelne Sequenzen aus “Revelations” markieren, wird sofort ansichtig, wie tief Aileys Vokabular in Rosales’ Körper verankert ist und wie fern es Soura liegt: Streckt sie das Bein in routinierter Balance zur Arabesque, bleibt er kniebeugig neben ihr stehen. Verflicht sie versiert Jazz Dance-Elemente mit Ballettbewegungen, greift er auf sein eigenes Repertoire zurück, das sich kraftvoll-dynamisch und in frontaler Ausrichtung den weich fließenden, vertikalen Bewegungen widersetzt. Diese Gegenüberstellung wird nicht kommentiert, keine der Körperprägungen oder Tanztechniken überhöht oder desavouiert, sondern ein Schluss aus dem Gesehenen den Zuschauer*innen überlassen. Hier kann ohne wohlmeinend-paternalistische Geste den kolonialen und postkolonialen Prägungen und den Konfrontationen, zu denen sie führen, komplex nachgespürt werden.