„The Touch of the Other“, Olympia Bukkakis ©Mayra Wallraff

Geteilte Verletzlichkeit

Als Auftakt des Festivals Risk and Resilience erzählt Olympia Bukkakis mit „A Touch of the Other“ in den Sophiensælen eine sehr persönliche Krisengeschichte, in der sie ihre eigene Geschichte als Drag-Performerin mit der ihrer weiblichen Verwandten verbindet.

Der Beginn des Stückes lässt sich sehr viel Zeit. Schon während das Publikum den Hochzeitsaal betritt, sitzt Olympia Bukkakis in der hinteren Ecke an einer Nähmaschine und schneidert an einem dicken Stoff vor sich hin. Der Bühnenraum ist voller Wäscheleinen, die sich, zwischen den Seitenwänden auf Kopfhöhe diagonal gespannt, in der Raummitte überkreuzen. Darunter liegen weiße, akkurat zusammengefaltete Laken und Wäscheklammern. Das sanfte Rattern der Maschine wirkt beruhigend, wie ein Schlaflied. Ihr Kostüm, bestehend aus Overall, Turban und Pumps, zitiert gleich drei verschiedene soziale weibliche Rollen. Es erinnert an Arbeitskleidung aus der Working-class, an die aus den Rüstungsfabriken zurück ins Heim geholten Hausfrauen der 1950er Jahre und – durch die Schuhe – an ihre Aufgabe, dem von der Arbeit zurückkehrenden, Geld verdienenden Ehemann einen schönen, von keiner Hausarbeit entstellten Anblick zu bieten. „We can do it“, hieß es auf dem ikonographisch gewordenen US-amerikanischen Plakat aus dem Zweiten Weltkrieg, dessen Aufforderung sich mühelos auf die Nachkriegszeit übertragen ließ. Der Beginn des Stückes lässt sich – dramaturgisch klug gesetzt – sehr, sehr viel Zeit.

Die aus Australien stammende Olympia Bukkakis ist als non-binäre Trans-Drag-Performerin seit 2012 ein fester Bestandteil der alternativen Drag-Szene in Berlin. Während ihr letztes Stück „Gender Euphoria“ noch stark an ein klassisches Drag-Kabarett angelehnt war und den unterhaltsamen und humorvollen Charakter von Drag-Shows betonte, ist „A Touch of the Other“ auffallend ruhiger, nachdenklicher, emotionaler – und sehr viel privater. Denn das Material des Stückes sind vor allem die Erzählungen von vier ihrer engsten weiblichen Familienmitglieder: ihrer Mutter, zwei ihrer Tanten und ihrer kleinen Schwester.

Deren mündliche Überlieferungen in Form von Interviews werden nun nach und nach aus dem Off und per Lip-Synchro von Bukkakis, quasi ihre Erfahrungen sich einverleibend, wiedergegeben. Sie erzählen von typischer Frauenarbeit, der Last der Verantwortung für die Kinder, schlecht bezahlten Jobs und dem Zwiespalt als Krankenschwester zu streiken (glücklicherweise hat Brian aber ein Einkommen). 

Schließlich beendet Olympia ihre Näharbeit und widmet sich dem Wäscheaufhängen. Gemächlich, teilnahmslos, mechanisch wird ein Tuch nach dem anderen an die Leinen geklammert. Reproduktion kennzeichnet den weiblichen, privaten Arbeitsbereich: die immer gleichen, wiederholten Tätigkeiten (Kochen-Spülen-Saubermachen-Waschen-Einkaufen).

„Kein Subjekt ist sein eigener Ausgangspunkt“, schreibt Judith Butler in „Das Unbehagen der Geschlechter“. Seine Konstitution selbst – und damit auch die des Geschlechts – ist ein Vorgang der hegemonialen Anpassung und Regulierung durch Diskurse und soziale Normen. Wie aber diesem Mechanismus entkommen, wie ihn unterlaufen?

Das alles zerhackende Stroboskoplicht markiert den Beginn einer Krisensituation. Im Schutz der halb-transparenten Tücher zieht Olympia Bukkakis die Pumps aus, zittert, stockt, stolpert, strauchelt und bringt die akkurate Hängung der Laken durcheinander. Zunehmend wirkt sie konfuser, hektischer, als würde sie gleich explodieren. Von der eingeübten Haltung, die sie bis jetzt gewahrt hat, ist nichts mehr übrig geblieben. 

Kommt nun das, was das Programm uns versprochen hat: Resilienzstrategien? Mit Handy und Bluetooth-Lautsprecher ausgestattet, versucht sie den Gefühlsstau ihrer in Zaum gehaltenen Energien in eine Tanzchoreografie zu entladen – zu sublimieren. Immer wieder setzt sie neu an, scheitert, wiederholt, scheitert… Ein scheinbar endloser Loop: „A Woman’s work is never done“, hören wir im Refrain.

Dieses Scheitern steigert sich zu einer finalen Krise, die alles Weitermachen blockiert: gefangen zwischen Selbstanklage und Selbstmitleid liegt sie resigniert auf dem Rücken und endlich verstummt auch der Song „Woman’s Work“ von Tina Arena. Wie schaffen wir es, weiter zu machen, obwohl wir scheitern? Wie trotz des Gefühls routinierter Ausweglosigkeit nach Auswegen suchen? 

Es sind diese in die Länge gezogenen Passagen und die Pausen, die auf den ersten Blick ermüden und unsere Geduld strapazieren – aber dem Stück das passende Tempo und eine Emotionalität verleihen, die nur noch wenig mit einer konventionellen, unterhaltsamen Drag-Show zu tun haben. 

Nachdem wir manch eine dieser Szenen ausgehalten haben, den Stillstand und die quälende Ausweglosigkeit spüren mussten, werden wir belohnt mit Kate Bushs „This Woman’s Work“, das Olympia Bukkakis nun stolz und kraftvoll und wie erleuchtet per Lip-Synchro performt. Erhaben und emanzipiert schreitet sie schließlich von der Bühne. Die Worte Kate Bushs hallen in mir nach: „I know you have a lot of strength left.“

Ebenso wie unsere Identität (und dazu gehört genauso das selbstquälerische Ich-Ideal, das so viele von uns sich zurechtgebastelt haben) hat auch unsere Geschlechtsidentität eine soziale Entstehungsgeschichte, die uns zwar geprägt hat, aber nicht determiniert. Und die zu ändern sehr viel Kraft und Resilienz verlangt.


„A Touch of the Other“ ist noch heute, 10. Oktober 2020, um 20:00 Uhr in den Sophiensælen zu sehen. Das Festival Risk and Resilience läuft bis zum 1. November 2020.