„tell me a better story 1“, cie. toula limnaios. Hier im Bild: Hironori Sugata ©cyan

Inspiration durch Begrenzungen

Als eine der wenigen deutschen Kompanien mit einem eigenen, festen Sitz und fest angestellten Tänzer*innen hat die cie. toula limnaios eine besondere Stelle in der Tanzlandschaft. Vor den Konsequenzen der Pandemie ist auch sie nicht geschont, lässt sich aber davon ganz neue Wege zeigen. Ihre aktuelle Produktion “tell me a better story”, eine Reihe von Solo- und Duostücken an zwei Abenden, macht die momentanen Einschränkungen physischen Kontakts zum kreativen Mittel. 

Wer die HALLE TANZBÜHNE BERLIN der cie. toula limnaios auf der Eberswalder Straße mehrmals besucht hat, weiß, dass es in der immensen Vielfalt der Themen, Affekte und Bilder der Stücke einige gibt, die den Zuschauer*innen immer wieder begegnen werden. Die Sehnsucht nach Kontakt, die Abwehr des Kontakts, Liebe und Leidenschaft, die sich in Gewalt und Druck verwandeln, Herrschaft und Unterwerfung… Es sind zeitlose und universelle Themen, ein kraftvoller Einblick in die conditio humana, nicht selten inspiriert von philosophischen Phänomenen oder von Denkern wie Camus oder Foucault.

Am 23. April 2020 sollte in der HALLE die Premiere ihres neuen Stücks “broken mirror” stattfinden. Mit den Worten der griechischen Choreografin, “ein Stück über Normalität und Wahnsinn”. Ein relevantes Thema für alle Epochen der Menscheit, aber gerade in der Abwesenheit des Gewöhnlichen in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Miteinanders bekommt es eine andere Dringlichkeit. Wie alle Akteur*innen darstellender Künste, wurde aber die Kompanie gezwungen, alle Vorstellungen bis Ende Juli 2020 abzusagen. “Es ist schwer mit der Ungewissheit – ohne ein Ziel zu arbeiten”, erzählte Limnaios in unserem Interview im Mai 2020. “Der ganze Regenbogen an Gefühlen hat uns überwältigt. Surfen in Wellen der Angst, Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit, nicht planbarer Zeit.” Und genau diese Ungewissheit und der Wunsch, den Live-Kulturbetrieb trotz Einschränkungen aufrecht und spannend zu erhalten, haben Limnaios dazu getrieben, neue Stück- und Aufführungskonzepte zu entwickeln. Auch wenn nur für ein stark beschränktes Publikum und ohne Körperkontakt zwischen den Tänzer*innen. Die erste Umsetzung davon war das Stück “meantime” mit sechs Soli und einem Duett, für welches das gesamte Areal der HALLE zur Verfügung stand. Die «Wiedereröffnung» des Theaters im August war laut Limnaios eine Art Wanderung: “Wandern durch Miniaturen wie in einem lebendigen Museum.” Und seit Oktober geht diese neue Phase des Experimentierens mit einer Reihe von Solo- und Duostücken weiter.

Die beiden Teile von “tell me a better story”, die am 2. und 3. Oktober 2020 in der HALLE uraufgeführt wurden, sind in ihrem künstlerischen Ausdruck keineswegs ein Kompromiss oder eine Kapitulation gegenüber den Kontakteinschränkungen der Pandemie. Der emotional sowie körperlich sehr expressive Tanz von Limnaios lebt nicht nur von einer bewegenden Gruppendynamik. Genauso wichtig waren immer die einzelnen Begegnungen der Individuen mit den Tiefen ihrer Psyche. Wenn die Tänzer*innen bei “tell me a better story” in ihrer Einsamkeit oder Zweisamkeit auf der Bühne stehen, erweitert sich der Raum, in dem sie ihre emotionalen und körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu Extremen der Schönheit oder Irritation treiben können. Und das Publikum hat so die Möglichkeit, eine nähere Beziehung zu den persönlichen Belangen der Tänzer*innen herzustellen. Wenn Karolina Wyrwal bei “replika” konstruierte Identitäten wie ein Kleidungsstück aus- und anzieht, wenn Hironoro Sugata („kyofu“) mit seiner Angst oder Leonardo D’Aquino („ich bin zwei“) mit seinen Geschlechterrollen in einen intimen Dialog tritt, gewinnen die immer wiederkehrenden und immer frisch bleibenden Themen von Limnaios eine weitere psychologische Tiefe. Ähnlich intensiviert wirkt die Musik von Limnaios’ Partner der ersten Stunde, Ralf R. Ollertz. Seine Klanggebilde von zerbrochener Eleganz oder aufregendem Experimentieren waren nie eine bloße Begleitung der Bewegung, sondern erzeugten immer eine weitere narrative Schicht, die selber zum Tanz wird. In Abwesenheit einer Tänzer*innen-Gruppe auf der Bühne wird seine Musik in ihrer Eigenständigkeit teilweise fassbarer.

Regelmäßige Zuschauer*innen von Limnaios sind sehr vertraut mit der Faszination, die die Fülle und die Vielschichtigkeit des Geschehens auf der Bühne auslöst. Die meiste Zeit gibt es außerordentlich viel zu erfahren, zu sehen und zu hören. Eine Vielfalt an Tänzer*innen, Symbolen, Requisiten, und filmischen/theatralen Sequenzen, die in ihrer Gesamtheit sowie als eigenständige Geschichten endlose Assoziationen auslösen. Ihr und ihren Tänzer*innen gelingt es mit “tell me a better story” (Teil 1: Laura Beschi, Alessio Scandale, Hironori Sugata, Karolina Wyrwal; Teil 2: Daniel Afonso, Leonardo D’Aquino, Francesca Bedin, Alba De Miguel) diese expressive Fülle auch mit weniger Kontakten zwischen den Körpern zu schaffen. Limnaios macht Stücke, die einen dazu zwingen, dem eigenen Gespür oder den eigenen Interessen zu folgen; eine Entscheidung zu treffen, was für einen in dieser Vielfalt im Zentrum stehen soll. Und diesmal zwang die Pandemie-Situation Limnaios zu einer Wahl: Sich Panik und Passivität übergeben oder neue Wege finden. Die insgesamt sieben Solo- und Duostücke von “tell me a better story” sind das Ergebnis der Entscheidung für das letzteres. “Erstaunen und weiter daran arbeiten, was uns in diesen schwierigen Momenten berührt und verwandelt”, bezeichnet Limnaios diese Wahl. “Denn wenn es eine Chance gibt, die uns die aktuelle Lage trotz allem bietet, dann ist es die Möglichkeit, zu wählen. Um weiterhin alle zusammen zu leben, sollten wir uns wieder erfinden. Wir sind sehr traurig, nicht mit der ganzen Gruppe und miteinander zu sein, aber es ist auch eine Quelle der Inspiration.” 

In der Zeit des sehnsuchtsvollen Wartens auf Kontakt bot Toula Limnaios ihrem Publikum ein Online-Programm. Im wöchentlichen Wechsel waren von Ende März bis Ende Juli neben ihren älteren und neuen Stücken, wie “la salle” (2015) oder “momentum” (2017), auch Doku-Filme über die Kompanie zu sehen. Das pandemiebedingte Streaming hat Limnaios dazu inspiriert,  Tanzvideos, Interviews und Filmfassungen nun als festen Bestandteil des Webauftritts der cie. toula limnaios anzubieten. Diese Videos der Tanzstücke sind “keine bloßen Dokumentationen”. Grundsätzlich ist das Live-Streaming von Aufführungen für die Choreografin nur interessant, wenn es qualitativ hochwertig eine künstlerische Eigenständigkeit gewährleistet. “Das Live-Streaming werden wir auch für die Zukunft nutzen, um jeder*m die Teilhabe an unserer Arbeit zu ermöglichen, aber eben nicht als Ersatz, sondern zusätzlich zu unseren «analogen» Vorstellungen. «Arts vivants», lebende Kunst, darstellende Kunst kann nur geschehen, wenn es ein Publikum gibt. Tanz ist nur da in dem Erlebten, in dem Moment, und dann verschwindet er wieder.’’

Die Umstellung auf Online-Formate, die gerade alle Kunstdisziplinen betrifft, bringt neben den künstlerischen auch strukturelle Fragen hervor. Diskussionen sammeln sich grundsätzlich um zwei Positionen, die Limnaios beide nachvollziehbar findet: Die Erleichterung der Teilhabe durch digitale Kanäle und die Befürchtung vor der Ausbeutung künstlerischer Arbeit. Für die Choreografin war das Streaming ihrer Stücke eine bereichernde Erfahrung. “Bis jetzt haben mehr als 101.000 Menschen aus 74 Ländern unsere Filme angesehen, die wir so nicht hätten erreichen können. Wir haben jedem der kann und möchte, die Möglichkeit gegeben, Solidarität zu zeigen und uns durch den Kauf von Soli-Karten zu unterstützen. Diese prägenden Zeiten zeigen uns eine enorme Bereitschaft und Unterstützung von unseren Zuschauern, Freunden, Tänzern. Wir sind dafür sehr dankbar. «Arts vivants», diese Existenzberechtigung werden wir nicht verlieren.”

Die Stücke von Limnaios sind intime Aufnahmen, die das Leiden und die Lust am Leben ins Absurde führen, um dieses Absurde in eine Schönheit voller Melancholie zu verwandeln. Die Themen von Limnaios sind so groß und ihre physischen Mittel dabei so kontrastreich: Egal wie alltäglich und plastisch sie manchmal wirken, durch eine Änderung im Körper oder Offenbarung der Seele manifestieren sie sich lebhaft und poetisch. Ein Lippenstift, ein Erdklumpen, ein Waschlappen oder ein Kleidungsstück können in dieser symbolischen Welt endlose Assoziationen auslösen, ohne ihren Alltagsbezug, vor allem ihren Bezug auf den Beziehungsalltag, zu verlieren. Ein Satz oder eine kleine Geste kann dann Träume und Albträume ins Leben rufen, ohne dass man sie in Sprache fassen kann oder muss. Prägende Bilder aus bildender Kunst oder Filmkunst kommen ins Gedächtnis, manchmal ohne zu wissen, wo man/frau sie schon mal gesehen hat. Die Sprache von Limnaios scheint wie eine erfundene Sprache zu sein, die jede*r sprechen kann. Eine Symbolsprache, die man nicht lernen muss, die intuitiv ist. Die Pandemie hat ihre Chancen was neues Futter für die menschliche Seele anbelangt. So viele Akzente der Tanzprache von Limnaios im Licht neuer Herausforderungen erleben zu können, ist definitiv eine davon.

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“tell me a better story 1” und “tell me a better story 2” der cie. toula limnaios sind noch an mehreren Abenden bis 23. bzw. 24. Oktober 2020 in der HALLE TANZBÜHNE BERLIN zu sehen.