“An Historical Tracing and Reproduction of the Motion…”, I Jung Lim ©Martina della Valle

Brutal und klinisch

Wie kann man Gesten und Bewegungen einer bestimmten Art historisch untersuchen? Die Flüchtigkeit des Körpers in Bewegung hinterlässt nur Spuren. Im Fall eines Fabrikarbeiters sind sie in den von ihm produzierten Objekten zu finden. “An Historical Tracing and Reproduction of the Motion between the Human Body and Industrial Artifacts” von I Jung Lim, noch bis zum 18. Oktober 2020 im Kunstquartier Bethanien zu sehen, sucht nach einer Antwort dazu.

Lange habe ich keine Vorstellung im Studio 1 des Kunstquartiers Bethanien mehr erlebt. Die ehemalige Kapelle ist einfach ein imposanter Raum, wo viele, jetzt bekannte Choreograf*innen ihren ersten Werke gezeigt haben. Und da in der Mitte, auf der Spitze einer Leiter, sitzt rittlings bewegungslos und uns beobachtend I Jung Lim. In der Apsis im Hintergrund läuft knarrend eine Art Fließband, und plötzlich stoppt es. I Jung Lim fängt an, sich in Stille zu bewegen, mit einer auf den ersten Blick unscheinbaren alltäglichen Präsenz, die aber im Kontrast steht zu der Virtuosität ihrer Handlungen. Mit ihren sehr kurz rasierten Haaren wirkt ihre in Denim gekleidete Figur geschlechtlos. Wie in der Vertikaltuchakrobatik (Aerial Silk) schwebt sie in der Luft und balanciert in unerwarteten und riskanten Posen auf der harten Leiter. Emphatisch spüre ich deren Kanten mit meinem eigenen Körper. Auf dem Boden gelandet flattern ihre Arme in Rückenlage mit abgehackten, Fließbandtätigkeiten ähnlichen Bewegungen. Die Deutung als Automatisierung wird noch klarer, als sie sich eine Autofelge holt. Ihre physische Vorbereitung für das Stück wird offensichtlicher – schon auf der Leiter war es klar, aber beim Schwingen der Autofelge merkt man, wie schwer diese Felge eigentlich ist. Brutal und poetisch sind die Sequenzen damit, wie auch mit den anderen, weiteren Objekten. In weißer Unterhose und Unterhemd sieht man I Jung Lim als Sisyphos die Leiter tragend, fast wie im Romantischen Ballett an einer Winde fliegend, und als sie sich anstrengt, einen Motor in Gang zu setzen, ist auch dies ohne Erfolg. Es gibt auch eine (zu kurze) Projektion von etwas Leib-artigem, um diese Verbindung noch deutlicher zu machen. Ganz am Schluss sieht man sie nackt auf dem Fließband in Yoga-ähnlichen Posen dahinrollend.

Der starke und ungewohnte Kontrast zwischen dem polierten Metall und dem Leib, bringt die physische ‘Labour’ in den Fokus, die Anstrengungen und Mühen, die zur Produktion von Objekten benötigt werden. Die ganze Vorstellung ist bewegungsarm, minimal, sodass was präsentiert wird, hervorgehoben wird. In einer Zeit, die von Flatscreens, digitalen Begegnungen und magisch Vor-deiner-Tür-ankommenden-Online-Bestellungen geprägt ist, wird das sinnliche Element (I Jung Lims Körper) im Stück akzentuiert. Im Kopf wirbeln mir Bilder von Fritz Langs “Metropolis” (1927) oder Charlie Chaplins Tanz mit den Zahnradgetrieben in „Moderne Zeiten” (1936), wo aber die Objekte funkelnagelneu sind. Die Objekte und Instrumente werden zu Erweiterungen des Körpers, fast zu einem Teil des Körpers, eine Art Cyborg entsteht. Im eleganten Programm findet man ein Gespräch zwischen der Künstlerin und der Dramaturgin Elena Basteri mit Hindeutungen auf die ausführliche wissenschaftliche und Bewegungs-Recherche, die dem Stück zugrunde liegt, deren Tiefe jedoch nur zum Teil zur visuellen Geltung gebracht worden ist, zum Beispiel wird die fast klinische Analyse der effizienten Bewegungen hinter dem Fließband an nur einer Stelle gezeigt. I Jung Lims Präsenz auf der Grenze zwischen Performance Art (erster Teil) und Tanz (zweiter Teil) ist sehr interessant anzusehen. Und angesichts der Integrität ihrer Recherche und Aufführung, würde ich mich freuen, bald noch mehr von ihr zu sehen.

Foto: “An Historical Tracing and Reproduction of the Motion between the Human Body and Industrial Artifacts”, I Jung Lim ©Martina della Valle


“An Historical Tracing and Reproduction of the Motion between the Human Body and Industrial Artifacts” von I Jung Lim wird vom 15.10. – 18.10.2020 um 19:00 Uhr im Kunstquartier Bethanien, Studio 1 gezeigt (Kartenreservierungen unter: tickets-lim@posteo.de).
Choreography and Artistic Director: I Jung Lim — Theoretical and Dramaturgical Support: Elena Basteri — Project Manager: Tammo Walter — Technical Manager: Christian Keilig — Technical Advice: Eitan Rieger — Poster & Brochure: Gregor Schreiter — Photography: Senya Corda.