„Pas de Q“, Tomi Paasonen ©Mayra Wallraff

Diese Galaxie, von eigener Hand erschaffen

Tomi Paasonens „Pas de Q“, das vom 1. bis 4. Dezember 2022 in den Sophiensælen gezeigt wird, ist eine radikale Performance von Community, die den Eindruck erweckt, als seien Drag und klassisches Ballett schon immer füreinander bestimmt gewesen.

Wenn die Wetter-App nicht nur für diesen Tag, sondern die ganze Woche „☀️ 0 Std“ anzeigt, geht der eigentliche Winter los. Gegen die Kältewellen lässt sich wappnen, aber das allgegenwärtige Grau bringt noch jeden Alltag ins Wanken. Damit in den nächsten Monaten der Neurotransmitter-Haushalt nicht umkippt, braucht es Johanniskraut-Präparate, UV-Licht-Bestrahlungen — oder Performances wie „Pas de Q“. Das neue Stück des Choreografen Tomi Paasonen ist aber mehr als nur ein 70-minütiger Serotonin-Glitch in Berlins alljährlicher Depressions-Saison, sondern die temporäre Verwirklichung eines polychromen, queer regierten Paralleluniversums, in der Diskriminierung nur noch in geisterhaften Geschichten über die Vergangenheit vorkommt.

„Für mich persönlich leben wir in einer Zeit, die die Kunst nicht dazu braucht, um das nächste nicht angesprochene Problem oder die nächste Katastrophe zu konfrontieren, zu schockieren oder aufzudecken. Ich bin jeden Tag von solchen Störungen übersättigt. […] vor allem brauche ich etwas, woran ich glauben kann, ich brauche ein bisschen gottverdammten Trost und ich möchte feiern, dass ich und meine Community immer noch hier sind“, schreibt Tomi Paasonen zu seinem jüngsten Stück. Die Abwendung von einem Verständnis von Kunst als Instanz der kritischen Reflexion von Gesellschaft ist im Falle von Paasonen, der unter anderem in Berlins Drag-Community beheimatet ist, nur allzu verständlich. Das Resultat ist ein Fest, das die Existenz von marginalisierten Körpern und Identitäten zelebriert, deren Unversehrtheit im monochromen Großstadtalltag in steter Gefahr ist. „Pas de Q“ ist ein Gesamtkunstwerk aus virtuosen Ballett- und Drag-Performances, schillernden Kostümen, einem psychedelischen Bühnenbild, fluoreszierendem Lichtdesign, abwechselnd fusionierender und sich spaltender elektronischer und klassischer Musik, Live-Malerei und -Moderation und autobiografischen Erzählungen. Alle Beteiligten und Bestandteile des Stücks sind dabei radikal non-hierarchisch organisiert: Jede Person aus dem Cast (Kai Braithwaite, Joel Small / Reflektra, Llewellyn Mnguni, Leonardo Mancuso, Ixa, Rory Midhani, Anne Marine Fidler / Poppy Cox, Colin Comfort / Gieza Poke, Bryan Schall / Nana Schewitz) ist auch Performer*in und hat im Laufe der Aufführung mindestens einen Solo-Moment. Alle und alles strahlen leuchtend hell, ohne dabei aber andere und anderes in den Schatten zu stellen. Ist das vielleicht eine Definition einer sozialen Utopie?

In diesem sich gen Unermesslichkeit auffächernden Facettenreichtum aus verschiedensten Identitäten, Bewegungen, Geschichten, Klängen und Farben spiegeln sich auch Teile aus Paasonens eigener Biografie. Beinahe siebzig Arbeiten hat er in den letzten dreißig Jahren als Choreograf entworfen, und ist dabei quer durch diverse künstlerische Kontexte, Tanzstile, Communities und professionelle Rollen gereist. All diese Stationen seiner Laufbahn sind mittlerweile im Rahmen seines Lebenswerk-Solos „Retrospectrum — 5 solos for 5 decades“ archiviert worden und auf seiner Website einsehbar, sodass man sich mit eigenen Augen von Paasonens überbordendem Oeuvre versichern kann. Seine neue Arbeit ist nun weniger eine weitere Bestandsaufnahme, sondern vielmehr ein neues Kapitel, in dem die beiden wichtigsten Akteur*innen in Paasonens künstlerischem Werdegang vermählt werden: Das Stück vollzieht die Hochzeit von Drag und klassischem Ballett, und „Pas de Q“ lässt sie wie ein power couple aussehen, das schon seit langem füreinander bestimmt ist.

Kurz bevor die Aufführung in den dritten und finalen Akt übergeht, in dem die Tänzer*innen in einem ball gegeneinander antreten, erzählt ein*e Performer*in von all den „stinky cellars of Berlin“, in denen sie seit über einer Dekade Drag-Shows hosten, und der Unwahrscheinlichkeit, nach all den Jahren nun plötzlich auf einer Theaterbühne zu stehen. „I built this galaxy with my own hands.“ Und dann rufen sie: „The day will come when queers will take over the world — no, the whole universe!“ Es ist eine Siegesrede für die eigene Community, ein Preisen des Überlebensdrangs, der Zuversicht und des Arbeitswillens, den es zur Errichtung einer solchen Galaxie braucht — und gleichzeitig eine Motivationsrede gegen den Pessimismus und die Verbitterung, die mit dem unerfüllten Wunsch nach queerer Gemeinschaft nicht selten einher geht. Eingehüllt in einen Schutzmantel aus Dankbarkeit und Bewunderung fahre ich durch den kalten Wind nach Hause. Die Vorhersagen der Wetter-App sind unverändert, aber mein Zuversichts-Radar prognostiziert „☂️ 100 %“.

Foto: „Pas de Q“ von Tomi Paasonen ©Mayra Wallraff


„Pas de Q“ (Premiere: 01.12.2022) von Tomi Paasonen mit Kai Braithwaite, Joel Small / Reflekta, Llewellyn Mnguni, Leonardo Mancuso, Ixa, Rory Midhani, Anne Marine Fidler / Poppy Cox, Colin Comfort / Gieza Poke, Bryan Schall / Nana Schewitz und Nancy Lund (Makeup) ist bis zum 4. Dezember 2022 in den Sophiensælen zu sehen, Tickets unter sophiensaele.com.


Read here the tanzschreiber review of Tomi Paasonen’s “Retrospectrum – 5 solos for 5 decades” >>> Looking Back, 18 October 2020 by David Pallant.