Marion Sparbers “No, woman, no cry… but when they do?” versucht tänzerisch, musikalisch und theatral zu hinterfragen, was es heutzutage bedeutet, eine Frau zu sein. Die Deutschlandpremiere der Produktion fand am 4. Dezember 2022 im Theater im Delphi statt.
Während das Publikum im Saal des ehemaligen Stummfilmkinos auf Barhockern quatscht oder sich Getränke an der Bar bestellt, befinden sich die sechs Performer*innen bereits auf der Bühne. Unter dem dreibögigen Proszenium im vorderen Teil der Bühne üben Breanne Camille Saxton, Sofia Brito und Tamae Yoneda mehrere Hebungen. Alex Kovú, Anna Ting Nissen Bech und Maja Parysek wärmen sich im Hintergrund auf. Neben ihnen sind mehrere Instrumente für die Musikerin Ana Root positioniert, die das 80-minütige Tanztheaterstück live begleiten wird.
Die Tänzer*innen reihen sich auf, den Rücken zum Publikum gewandt, und beginnen mit langsamen Schritten rückwärts zu gehen. Erst als das Zuschauerlicht erlischt, verrinnt das konstante Summen der Gespräche im Publikum und wird abgelöst durch einen ähnlichen Redefluss ausgehend von den Performer*innen. In unterschiedlichen Sprachen und begleitet von raumgreifenden Gesten entsteht eine Geräuschkulisse aus Affirmationen. “You are made by and of everything that is” ist der einzige Auszug, den ich verstehen kann. Die Sätze wiederholen sie lauter und lauter, bis die Sprache in einen sanften Gesang übergeht. Sie lehnen sich aneinander, stützen sich gegenseitig. Ein Motiv, das in diesem Stück immer wieder auftaucht. Dann beginnt das spielerische Chaos des Stücks.
Comicartige Soundeffekte begleiten die kraftvolle, akrobatische Bodenarbeit, für die Choreografin Marion Sparber bekannt ist. Eine Vielzahl von Szenen zeigt die Facetten von Emotionen, Kraft und Ernsthaftigkeit, die in den Körpern der Tänzer*innen stecken. Ein Augenblick, in dem sie spielerisch kindliche Grimassen ziehen, entwickelt sich zu einem spürbar ernsteren Moment, in dem Sofia Brito unter dem Druck und der Lautstärke des Außen zusammenbricht und immer und immer wieder versucht, sich aufzuraffen. Breanne Camille Saxton kämpft in einem Solo mit voller Kraft und spürbarer Wut gegen eine*n unsichtbare*n Gegner*in. Das daraus entstehende Duett mit Alex Kovú zeigt ein inniges und liebevolles Unterstützen, ein haltendes Miteinander. Szenen wie diese gehen mir nahe und zeigen deutlich, dass Teile des Stücks mit wahren Emotionen gefüllt sind und persönlichen Erzählungen der Tänzer*innen entspringen.
Als gegen Ende des Stücks aus einem spaßigen Abtanzen eine Szene mit Klängen und Bewegungen wird, die mich stark an klassischen indischen Tanz erinnern, macht sich in meinem Körper ein anderes Gefühl breit. Ich schreibe „Warum?“ in mein Notizbuch. Eine Frage, auf die ich auch jetzt, zwei Tage nachdem ich das Stück gesehen und verdaut habe, noch keine Antwort habe. Weder das Stück noch die Beschreibung gaben mir genügend Kontext, um zu verstehen, warum sich dieser traditionsreichen Tanzform angeeignet werden musste.
Die Vielzahl von Szenen erlebe ich als Zuschauerin fast wie eine Achterbahn der Gefühle. Die Tänzer*innen verlassen mehrmals die Bühne und treten in neuen, oft knallig bunten Kostümen wieder auf. Duette und Trios laufen parallel. Nahezu alle Szenen werden von Rhythmen, Melodien und Gesang begleitet. Ich verliere teilweise den Überblick, vieles verschwimmt in einem farbenfrohen, aber diffusen Chaos. Ich frage mich, ob das möglicherweise die präsentierte Antwort auf die Hinterfragung des traditionellen Weiblichkeitsbilds ist, die sich das Stück vornimmt. Es muss keinen Sinn ergeben, kann in keine Schublade gepackt werden, ist so facettenreich, chaotisch und teilweise undurchschaubar wie das Leben selbst.
“No, woman, no cry… but when they do?” von Marion Sparber war am 4. Dezember 2022 als Deutschlandpremiere im Theater im Delphi (Gustav-Adolf-Str. 2, 13086 Berlin) zu sehen. Das Stück ist Teil einer Trilogie Sparbers, deren erster Teil „Big boys don’t cry… but when they do?“ 2020 choreografiert wurde.