„nowhere“, Cristiana Casadio ©Günter Krammer

Im Nirgendwo – kuriose Träume als Collage der Absurditäten

Cristiana Casadios Solo “nowhere” berichtet aus dem illusorischen Ort, dem Träume entspringen. Die Premiere fand am 8. Dezember 2022 im Pfefferberg Theater statt. 

Träume haben mich schon immer verblüfft. Egal wie vielen Leuten ich als Kind von meinen Albträumen erzählte, es wurde immer gelacht. Niemand verstand, wie Früchte, die immer und immer wieder zerquetscht wurden, Schrecken verursachen können. Jetzt sehe ich den Humor. Die bizarren Situationen, die im Schlaf beängstigend sind, können sich als recht amüsant und kreativ erweisen. Um meinem Verständnis von Cristiana Casadios Solo über die Welt der Träume eine weitere Ebene zu geben, recherchierte ich einige gängige Traumdeutungen für die auf der Bühne verwendeten Objekte.

Ein Stuhl – die Sehnsucht nach Geborgenheit

Der rote Vorhang des Pfefferberg Theaters öffnet sich. Zu sehen ist ein grauer Holzstuhl, der schräg an Casadio lehnt. Als sie sich mit vorsichtigen Bewegungen vom Stuhl entfernt, so als würde ihr Körper langsam zurückgespult werden, rührt sich dieser kein bisschen. Er balanciert scheinbar auf den schmalen Kanten zweier Stuhlbeine. Die Tänzerin verknotet ihren Körper, bringt ihn in kuriose Positionen. Es ist ein Körper aus einer Traumwelt, in der die bewährten Fortbewegungsmethoden nicht zu funktionieren scheinen. Eine neue Art des Weiterkommens wird erfunden. Mit ihrer rechten Hand stützt sie sich auf dem angewinkelten rechten Knie ab. Ihr linker Arm schiebt sich hinter ihrem Kopf entlang und hält sich an dem gebeugten Ellenbogen fest. Da ihre langen braunen Haare das Gesicht verdecken, bin ich mir zeitweilig unsicher, wo vorne und wo hinten ist. Mit Kraft des linken Beines schafft sie es, sich vorwärts zu schieben. Als sie wieder am Stuhl ankommt, löst sich dieser aus seinem Balanceakt. Nebeneinander, übereinander, miteinander entsteht ein verzahntes Duett zwischen hölzernem und menschlichem Körper. Casadio trägt den Stuhl als Kleid, oder hält ihn im Gleichgewicht auf dem Hintern, während sie auf allen Vieren über die Bühne schleicht. Sie schiebt sich zwischen Querverstrebungen und Sitzfläche, wie eine Schnecke, die in ihr Haus zurückkehrt. Sie streckt ihren Körper, als würde sie aus der Traumwelt aufwachen, bevor ihre Gliedmaßen jegliche Spannung verlieren, zerschmelzen und die Form des Stuhls annehmen.

Besteck – Aufnahme neuer Erkenntnisse

Casadio zaubert unentdeckt einen Löffel und eine Gabel hervor. Wie Arielle kämmt sie sich die Haare mit der Gabel aus dem Gesicht und betrachtet im Löffel ihr Spiegelbild. Fasziniert von der verzerrten eigenen Erscheinung schiebt sie sich mit dem Besteck abwechselnd ein breites Grinsen, dann ein Stirnrunzeln herbei. Die Gesichtsentgleisungen schleudern sie neugierig durch den Raum, spiralisieren sie in kontrollierten Drehungen um die eigene Achse und ziehen den gestreckten Fuß Richtung Decke. Scheinbar schutzsuchend windet sie sich wieder in den Stuhl, legt ihren Schopf auf die Sitzfläche und beginnt einzelne Haarsträhnen wie Spaghetti auf die Gabel aufzuwickeln. Bilder entstehen und verwandeln sich rasch. In der Traumwelt muss nichts einen wirklichen Sinn ergeben. Die skurrilen Momente wirken teils wie ein beschwingter Albtraum, der trotz Unwohlsein in der Nacht am nächsten Morgen ein Schmunzeln bringt. 

Ein Mantel und ein Ast – Verletzlichkeit und Sorgen

Der Kapuzenmantel aus weißem Kunstpelz fällt von der Decke. Ein Bein auf der Schulter abgelegt, kriecht die Träumerin als dreiarmiges groteskes Wesen Richtung Stoffhaufen. Sobald sie den Mantel erreicht und angezogen hat, kommt ein kahler Ast zum Vorschein mit dem sie wintermärchenromantisch über die Bühne tanzt. Als der Zweig wie ein mürrischer Hund nicht mehr weitergehen möchte, versucht sie ihn mit Laubblättern zu füttern. Immer wieder sehe ich auf der Bühne gescheiterte Versuche, innige Verbindungen herzustellen. Alles, was in der Traumwelt der Tänzerin vorkommt, sind eher unbeseelte Objekte, denen sie nur für begrenzte Zeit ein wenig Leben einhauchen kann. Stets gibt es einen Moment, in dem die Einsamkeit überwiegt und ein nächstes Objekt zum Vorschein kommt. 

Eine Grünpflanze – Wachstum und Veränderung

Die Pflanze rast wie ein ferngesteuertes Auto über die Bühne. Nicht mal kniehoch zieht sie Bahnen von links nach rechts und bringt Casadio fast aus dem Gleichgewicht. Gemeinsam beginnen sie einen schnellen, bizarren Paartanz. Dies ist in diesem Traum der einzige Augenblick, der so etwas wie Zweisamkeit beschreibt. 

“nowhere” schafft es in 60 Minuten, die Skurrilität und geistreiche Unlogik von Träumen auf die Bühne zu bringen. Mit Zaubertricks, flexiblem Körper und ausdrucksstarker Spannung kreiert Cristiana Casadio eine Collage, die die Kraft der inneren Fantasiewelt beschreibt. Ob die Traumdeutung, die ich durch eine einfache Internetrecherche finden kann, mir wirklich mein tiefstes Inneres aufzeigen kann, sehe ich skeptisch. Als Methode, meine Gedanken zu diesem Stück zu bündeln, hat sie mir jedoch Freude bereitet. 


„nowhere“ – ein Solo von Cristiana Casadio, Premiere: 8. Dezember 2022 im Pfefferberg Theater, Tickets unter pfefferberg-theater.de.