„Bicho Raro“, Danilo Andrés ©Kimberly Lauren Bryan

Mutationen des Sonderbaren

TANZTAGE BERLIN 2023 >>> „Bicho Raro“, eine Video- und Performance-Arbeit von Tänzer*in und Choreograf*in Danilo Andrés, untersuchte am 10./11. Dezember 2022 im Flutgraben die sonderbare Welt des Bodybuilding. Eine weitere Version des Stücks wird unter demselben Titel im Rahmen der Tanztage Berlin im Januar 2023 zu sehen sein.

„Imagine that your body does not exist anymore.“ Die Kreatur, die diesen und ähnliche Sätze sagt und dabei bei jeder Aussage ihre Muskeln neu in Szene setzt, trägt Sneaker High Heels, ein schwarzes harness und künstliche Wimpern. Ihr Gesicht glitzert in Weiß, Türkis und Purpur, und der so gar nicht existenzbedrohte Körper leuchtet in dunklem Rosa — der universalen Farbe des Fleisches, die sich unter der Haut aller Körper auftut, um es mit der Schriftstellerin Andrea Long Chu zu sagen. Die Ganzkörperbemalung erinnert daran, dass Bodybuilder*innen vor Wettkämpfen ein bronzefarbenes Spray aufzutragen pflegen, um ihren Muskeln zusätzliche Kontur zu verleihen — doch durch das Pink scheinen die Muskeln der Kreatur eher zu verschwimmen. Eine buchstäbliche Definition des Körpers, welche direkt wieder in Frage gestellt wird? Während die verbale Sprache sich langsam zu para-verbalen Lauten auflöst, frage ich mich, ob der nicht mehr vorhandene Körper eigentlich Traum oder Alptraum eines*r Bodybuilders*in ist.

Bodybuilding ist ein schwer vermessbares Terrain, in dem Selbstfürsorge unmerklich in Autoaggression übergehen kann, in dem sich Landstriche der Ermächtigung genauso wie der Unterwerfung finden lassen, in dem das Patriarchat parallel zementiert und untergraben wird. Danilo Andrés, Tänzer*in und Choreograf*in, lotet diese Ambivalenzen in ihrer performativen Installation „Bicho Raro“ aus. Wie die Tore eines Fußballfeldes stehen zwei große Bildschirme auf beiden Seiten der Mehrzweckhalle im Flutgraben in Berlin-Kreuzberg, dazwischen ein Springbock und eine mit Hanteln stabilisierte freistehende Reckstange (Bühnenbild: Moran Sanderovich). Beide Geräte sind teilweise mit einer wachsähnlichen Substanz überzogen und in Türkis, Rosa und Weiß eingefärbt, so als seien sie fleischgewordene Prothesen des pinken Körpers, mit denen dieser jederzeit wieder verwachsen könnte. Oder besteht der beinahe nackte Körper, dem die Kälte des unbeheizten Raumes anscheinend nichts anhaben kann, unter seiner leuchtenden Oberfläche aus Metall, Holz und Leder? An der Seitenlinie befinden sich zwei Sound-Stationen, und quer über das Feld ziehen sich die Kabel zweier Mikrofone, die das organische Echo des Raumes gelegentlich anorganisch multiplizieren (Sounddesign: Mad Kate – Elektronik/Stimme, Sara Neidorf – Schlagzeug). Auf dem Sportplatz von „Bicho Raro“ findet ein unübersichtlicher Wettkampf der Assoziationen statt.

Die Arbeit besteht aus einer Zweikanal-Videoinstallation, die zweimal von kurzen Performances unterbrochen wird. Die einzelnen Bestandteile nähern sich dem Phänomen des Bodybuildings auf verschiedene Weise und lassen dabei allgemeinere Fragen nach der Beschaffenheit des trainierenden Körpers aufscheinen. In der ersten Performance, die wie eine Körper-Installation anmutet, wirkt Andrés wie gefangen in einer endlosen Schleife aus Liegestützen, Klimmzügen und Bauchpressen. Jeder Ort im Raum fordert zu einer neuen Übung auf, jeder Gegenstand wird zum Trainingsgerät: Hier eröffnet sich eine Welt, die außer dem Drill alle Seinszustände vergessen zu haben scheint. Andrés führt vor, dass auch in einem vollkommen ausgelaugten Körper noch winzige Teilchen von Energie flimmern, die durch Mikro-Klimmzüge mobilisiert werden können.

In der zweiten Performance hingegen erweckt sich die vormalig maschinenhafte Körperstatue selbst zum Leben. In einem physisch-klanglichen Ritual, in dem die Kreatur Bewegungen jenseits der monotonen Repetition und stimmliche Äußerungen jenseits des gequälten Stöhnens wiederentdeckt, offenbart sich das Potential des menschlichen Körpers für unendlich viele Existenzweisen: Während Andrés schreit, lacht, brüllt und singt, und seine*ihre Bewegungen dabei zunehmend tänzerischer werden, taumelt er*sie zwischen Erschöpfung, Erregung und Verzweiflung hin und her.

In der die Performances rahmenden Videoarbeit (Videoinstallation: Peter Bromme, Paulo Fernandez) sieht man Andrés sowohl als vierarmiges mystisches Wesen, als auch als monströsen Androiden, dem sich die künstliche Haut vom Gesicht löst und weiße Flüssigkeit aus dem Mund läuft (Make-up Videoinstallation: Queen of Virginity, Danilo Andrés). Wird man durch Bodybuilding eher zum Gott, zur Maschine — oder, wie die Überschrift des Abends andeuten könnte, zum Tier? Für eine eindeutige Antwort öffnet die Arbeit zu viele und zu widersprüchliche Assoziationsräume, die eigentlich bereits im Titel beginnen: „Bicho“ lässt sich mit „Bestie“, „Kamerad“ oder „Fehler“ übersetzen, „Bicho Raro“ hingegen kann auch „Sonderling“ bedeuten. Im Laufe der vier Stunden des Abends zeigt sich immer mehr, dass die pinke Kreatur eigentlich keinerlei Interesse an der Anfangs aufgeworfenen Frage nach der hypothetischen Nicht-Existenz des Körpers hat. Vielmehr zeigen sich hier allerlei konkrete, körperliche Mutationen des Sonderbaren, die in der Welt des Bodybuilding plötzlich möglich werden.


„Bicho Raro“ – Videoinstallation und Performance von und mit Danilo Andrés war am 10. und 11. Dezember 2022 im Flutgraben zu sehen. Die laufende Recherche, die Danilo Andrés bisher in Form einer Videoinstallation und eines queeren Gymnastikkurses präsentierte, wird am 19. und 20. Januar 2023 um 19:00 Uhr im Rahmen der Tanztage Berlin 2023 als Performance zu sehen sein. Das Programm der Tanztage Berlin 2023 und Ticketinfo unter tanztage-berlin.sophiensaele.com.