„Perpetual Myth“, Irina Demina ©Irina Demina

Die Flüchtigkeit des Moments digitalisieren

Aus dem Keller des DOCK 11 streamte Irina Demina am 26. November 2021 ihre Performance „Perpetual Myth“ als Echtzeit-Aufführung im digitalen Raum und nahm uns leichtfüßig mit in die komplexen wie auch faszinierenden Welten des Motion Captures.

Auf ihrem Instagram-Kanal postete die diesjährige Pina Bausch Fellowship Stipendiatin Irina Demina einen Tag vor der Online-Premiere von „Perpetual Myth“ ein kurzes Video, in dem sie inhaltliche Fragen zu ihrer neuen Arbeit beantwortet. Darin erfahren wir einerseits, dass die ersten Impulse für die virtuelle Performance aus Lockdown-bedingten Reflektionen über Gemeinschaft und Individualität kamen. Anderseits erzählt die Choreografin, dass ihr Anliegen, auch digitale Bühnen zu nutzen, sich durchaus mit ihrem bereits etablierten und langfristigen Interesse an Volkstänzen zusammendenken lässt. Als eine Art Zeitreise beschreibt sie ihre neue Arbeit, denn es sind historische Volkstanztraditionen wie diverse Reigentänze und das dazugehörige Bewegungsmaterial, welche Irina Demina mit digitalen Technologien der Zukunft erkunden und in Echtzeit teilen möchte.

Ein Motion-Capture-Verfahren funktioniert meist mit Marker-Punkten am Körper, die räumlich in ihren Bewegungen erfasst und auf eine digitale Figur übertragen werden können. Für „Perpetual Myth“ hat sich das Team um Irina Demina jedoch mit noch feingliedriger Technik befasst und mit dem sogenannten Kinect ein Tool zur Bewegungssteuerung aus der Gaming Welt genutzt, bei dem mittels Infrarotstrahlung und Reflektion ein dreidimensionales Bild des Körpers und seiner Echtzeitbewegung im Raum dargestellt werden kann. Eine eingebaute Kamera filmt die Tänzerin gleichzeitig und so sehen wir im Stück keine Avatar-artige digitale Figur von ihr, sondern ihr regulär gefilmtes Bild als eine Art „Cut Out“ mit teilweise unscharfen bzw. ruckelnden Konturen, wie man es aus Videospielen kennt. 

Foto: „Perpetual Myth“ von Irina Demina © Irina Demina

Zwischen den verschiedenen Welten und Sphären zu wechseln ist charakteristisch für „Perpetual Myth“. So erklärt uns die Choreografin und Tänzerin beispielsweise in einer direkten Ansprache die reale Raumsituation im DOCK 11 und wer noch alles mit ihr vor Ort ist, während wir sie per Live-Kamera auf einem echten Stuhl zwischen zwei künstlichen, roten Bäumchen sitzen sehen. Es folgt die Einladung, für einen Moment die Augen zu schließen und sich selbst in dem Raum zu verorten, in welchem man sich als Zuschauende*r gerade befindet, die eigene Atmung wahrzunehmen und Spannungen im Körper gehen zu lassen. Was als Warm-up und Visualisierungstechnik aus dem zeitgenössischen Tanz manchen vertraut ist, führt uns hier zunächst überraschend, aber bewusst gewählt über die eigene Körperwahrnehmung in die digitale Welt. Denn als wir die Augen wieder öffnen, sehen wir Irina Demina, die nunmehr einen bodenlangen orangefarbenen Rock trägt, im virtuellen Raum. Zunächst ist die Welt, durch die sie behutsam sowie immer wieder kreisförmig schreitet und tanzt, lediglich ein schwarzer Hintergrund mit weißem Boden zur räumlichen Orientierung. Doch dank entsprechender Software gestaltet und füllt sich dieser virtuelle Raum alsbald auf faszinierende Weise.

Die komplexen Welten und verschiedenen Ebenen, digital erstellt oder gefilmt, bauen sich in der knapp einstündigen gestreamten Performance nach und nach auf und greifen immer wieder nahtlos ineinander, so dass das Stück nicht nur eine Zeitreise darstellt, sondern auch verschiedene Welten scheinbar verschmelzen lässt. Zu Beginn sehen wir lange Zeit ein unbewegtes Bild, welches neben der virtuellen Figur eines Menschen in der Mitte, auf der linken Seite eine Art orangefarbene Wolke aus schwebenden kugelförmigen Partikeln zeigt. Rechts von der digitalen Person, scheinen rote Partikel einen kleinen roten Baum zu formen oder zu dekonstruieren – je nachdem ob die Bewegung der Teilchen eine sich zerstreuende oder zusammenfindende wäre. Es ist eines von vielen vergleichbaren Bildern, wie sie später im Stück mit Irina Demina als Tänzerin in Bewegung immer wieder vorkommen. 

Dabei sind es diese kleinen runden Partikel in den Farbtönen von Deminas Kleidung, die das erfasste Bild von ihr in der entsprechenden Pose wie ein verpixeltes Standbild für einen Moment festhalten und im Raum stehen lassen, um sich dann dynamisch zu verteilen und in verschiedene Richtungen aufzulösen. Die vielen kleinen Kugeln und deren abgestimmte Programmierung des Zerstreuens oder Zusammenkommens werden zu einer eigenen choreografischen Ebene und lassen eine sphärische Welt entstehen, die poetische Vorstellungen des Schwebens in den Weiten des Universums zeichnet. Spannend daran ist auch, dass die Flüchtigkeit der tänzerischen Bewegungen durch diese sich transformierenden Standbilder greifbar wird. Irina Demina selbst bewegt sich weiter durch den Raum und so werden die Standbilder der Partikel für einen Moment zu einer Hülle oder Spur des Vergangenen. Mittels digitaler Technik bleibt hier eine Bewegung im Raum länger wahrnehmbar und ihre Auflösung kann kontrolliert werden, doch das dynamische Zerfließen der aus vielen Partikeln bestehenden Form dieser Standbilder verdeutlicht auf technisch elaborierte Weise einmal mehr die Vergänglichkeit des Moments sowie des Tanzes selbst.


„Perpetual Myth“ von Irina Demina war als digitale Aufführung in Echtzeit vom 26.-28. November 2021 gestreamt aus dem DOCK 11 zu erleben. Weitere Informationen und einen Trailer zur Performance finden sich auf der Webseite der Künstlerin unter irinademina.com.