Florentina Holzingers „Ophelia’s Got Talent” erinnert mich an einen Aufsatz, den ich einst schrieb. In ihm war die Ophelia in Shakespeares Hamlet mein Beispiel, mit dem ich belegte, dass Frauen zarter gezeichnet werden als Männer. Nirgends stimmt das weniger als in Holzingers Stück: Mit einem ganz fetten Edding signiert die Künstlerin ihren Namen, tatsächlich den Namen jeder Frau, die ihr je folgte. „Ophelia’s Got Talent“ feierte am 15. September 2022 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Premiere und eröffnete die aktuelle Spielzeit mit einer Hommage an die Weiblichkeit, die Sie nicht verpassen sollten.
Am Stand im Foyer der Volksbühne verkaufen sie „Ophelia’s Got Talent“-Merchandise, von gebrandeten T-Shirts bis zu passenden Tragetaschen. Als ich mein Ticket hole, drückt man mir anstelle von Programmheft und Abendzettel ein Poster und ein Lesezeichen in die Hand. Hier schämt sich eindeutig niemand für ein bisschen Eigenwerbung. Im Gegenteil: „Ophelia’s Got Talent“ exponiert sich bis zur Schmerzgrenze – im wahrsten Sinn des Wortes.
Auf der Suche nach dem ‚XX Factor‘ gehen zwölf Frauen mit Tanz, Stunts und Sidekick-inspirierten Acts in einer Talentshow an ihr physisches, emotionales und psychosoziales Limit. Tatsächlich findet sich kein Y-Chromosom in diesem exklusiv femininen und splitternackten Mehrgenerationen-Cast: kein boshaft grinsender Simon Cowell, sondern drei Jurorinnen – Inga Busch, Renée Copraij und Saioa Alvarez Ruiz –, die aufmunternd lächelnd, mit nacktem Po auf weißen Lederfauteuils sitzend, die Hand über dem Buzzer schwebend, das Spiel verfolgen. Nacktheit ist für Holzinger die große Gleichmacherin des Lebens. Sie gilt für alle, mit Ausnahme der kleinen Gruppe Minderjähriger, die später auf die Bühne kommen. Nacktheit für alle, egal welche Größe und Gestalt. Holzingers Konzept vermittelt sich so intensiv, dass ich mich unweigerlich als Betrügerin fühle angesichts der vielen Schichten, in die ich gehüllt bin – konkret und im übertragenen Sinn. Doch genau darum geht es der Künstlerin: Den Zuschauenden soll bewusst werden, wie sehr sie sich hinter ihrer eigenen Unsicherheit, ihren Hemmungen und Ängsten verschanzen.
Recht bald bittet Showmasterin Annina Machaz – eine Captain-Hook-ähnliche Gestalt mit Vaterkomplex – eine*n Freiwillige*n aus dem Publikum auf die Bühne. Jetzt ist es an uns: Wir können uns nun als so mutig und brillant erweisen, wie die Frauen, die in der Show miteinander konkurrieren. Wer wird Holzingers Einladung folgen? Sind wir nicht auch talentiert, wenn auch weniger eklektisch und exzentrisch als Machaz‘ wilde Meute: Pole-Dancer Sophie Duncan mit einer hochfliegenden Performance, Schwertschluckerin Fibi Eyewalker, tief einsaugend ohne Würgereiz. Und weiter: die unter Wasser treibende Escape-Artistin mit dem Riesenlungenvolumen, die sich – inszeniert fast scheiternd – mit einer Haarnadel von ihren Fesseln befreien will. Und natürlich Xana Novais, die Tänzerin, die – sich nur mit ihrem „stählernen Kiefer“ an ein Seil krallend – mehrere Zentimeter über dem Boden hängt. Saioa Alvarez Ruiz und Zora Schemm präsentieren trotz ihrer Behinderung eine knifflige, riskante Performance. Wie um alles in der Welt gelang Holzinger das Engagement dieses Ensembles?
Mehrere ihrer Protagonistinnen fand Holzinger via Craigslist, wo sie offenbar nach „Frauen mit besonderen Talenten“ suchte. Zweifellos sind deren Skills ‚besonders‘. Doch da ist mehr im Spiel, realisiere ich, während ich das Spektakel, das sich vor meinen Augen entfaltet betrachte und zugleich ignoriere, die Schau, die ich beklatsche, während ich gleichzeitig den Saal verlassen will. Ich bewundere, derweil ich mich unwohl fühle. Es reizt mich und stößt mich ab. Denn Holzingers Bühne ist im Grunde ein Labor, in dem vor einem ahnungslosen Publikum Tabus ausgetestet werden: Angelhaken werden durch Haut gezogen, Rücken werden tätowiert, Frauen klettern auf einen originalgroßen Helikopter und reiten ihn bis zum Orgasmus. Noch nie sah ich so viel Ejakulat, geschweige denn aus einem autoerotischen Flugzeug spritzen. Wir, das Publikum, sind ganz offenbar Holzingers Versuchskaninchen, Testtierchen, die sie bereitwillig auf dem Altar ihrer Kunst opfert. Jedenfalls hat sie ihre Projekte im Lauf der Jahre nicht modifiziert, nur weil Zuschauende während der Vorstellung den Saal verlassen. Vielmehr geht es bei „Ophelia’s Got Talent“, ähnlich wie in früheren Inszenierungen, eher um die Frage, was Publikum und Performende ertragen können. Sagte ich schon, dass die Show knapp drei Stunden dauert? Wäre mir allerdings nicht aufgefallen, hätte ich nicht Harndrang verspürt. (Die zahlreichen Wasserbehälter auf der Bühne sind hier wenig hilfreich.)
Ursprünglich sollte die Performance wohl den Titel „Water“ tragen, bevor sich Holzinger für Hamlets Heldin entschied. Schließlich ist „Ophelia’s Got Talent” ebenso Erkundung der Mythologie des Wassers wie Erforschung des Mythos Frau: von betrunken singenden Matrosen – „What shall we do with a drunken sailor?“ – bis zu ans Ufer gespülten, am Strand nach Luft ringenden Nixen. Holzinger stellt das historisch-symbolische Bild von Wasser als Todesboten auf den Kopf und konfrontiert uns mit unserem Mord am Meer. Unser exzessiver Energieverbrauch, die sich verschärfende Klimakrise, unsere rücksichtslose Wegwerfkultur und die Verseuchung der Ozeane mit Mikroplastik: Das wird spätestens in dem Moment unübersehbar, als eine Ladung von Plastikflaschen vom Bühnenturm in den mit Blut und Wichse besudelten Swimmingpool stürzt. Auf der Bühne herrscht Chaos. Das Chaos, das wir letztlich der nächsten Generation hinterlassen…
Holzingers Schlussbild in „Ophelia’s Got Talent” ist eine Mädchengang, Kinder, die – gekleidet wie ein Schwarm Haie – zum Sound von Ed Sheerans „Bad Habits“ im Wrack der Welt plantschen, die ihnen blieb. Ernüchternd. Doch etwas in ihrem inspirierten Spiel sagt mir, dass sie gemeinsam einen Weg finden werden. Denn diese Mädchen haben, wie ihre Vorgängerinnen, mehr als Talent.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
„Ophelia’s Got Talent“ von Florentina Holzinger wurde am 15. September 2022 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz uraufgeführt. Nächste Vorstellungstermine am 25./26. September, 23./24. Oktober, 16./17. und 26./27. November, 11./12. und 22. Dezember 2022.