„Cyclops“, nach einer Idee und unter der Regie von Zé de Paiva, präsentiert opulent fließende Bildfragmente im Sucher der Kamera. Wir sehen Bilder unserer selbst und Bilder von de Paiva und der Co-Performerin Nasheeka Nedsreal als Avatare und Cyborg-Zyklopen. Sie steuern und hinterfragen das Narrativ dieser Performance, die im Ballhaus Naunynstraße auf die Bühne gebracht wurde.
Gruppen von Zuschauenden sitzen auf dem Saalboden. Manche gegen die Wand gelehnt, andere mitten im Raum. Sie blicken in unterschiedliche Richtungen. An den – vier – Wänden sehen wir Videoprojektionen. Eine klare Abtrennung der Bühne fehlt. Der visuelle Wirbel der Bilder beunruhigt. Ich fühle mich nicht wohl, suche nach Schlüsseln, nach Kontrolle. Ich hocke mich in ein Eckchen, will den maximalen Blick auf die Seiten des Auditoriums. Wissen ist Macht, heißt es. Richtigerweise. Hier, in diesem Theater entscheiden die Bilder über das Wissen. Die Macht halten sie.
Funktioniert meine Strategie? Ich werde es in der nächsten Stunde erfahren, während ich die „Zyklopen“ erlebe, und diese mich im Blick haben.
Noch sind die Performenden nicht im Raum. Bevor wir sie sehen, sehen wir, was sie sehen. Auf der Wand vor mir eine Videoprojektion: Sie zeigt, was draußen, vor dem Ballhaus Naunynstraße vor sich geht. Die Farbe des Abendhimmels lässt mich schlussfolgern, dass es sich um einen Live-Feed handelt. Die Person, deren Perspektive zu meiner wird, betritt das Gebäude. Ich sehe ihre Hand. Sie drückt den Fahrstuhlknopf. Die Türen des Fahrstuhls öffnen sich. Bewegte Bilder verraten den Gang dieser Person und das Tempo, mit dem sie vorwärts eilt. Die Projektion auf der Wand – ein Flimmerbild. Die Spannung steigt. Die Person mit der Kamera erreicht die Tür zur Empore, die wir selbst gerade erst durchschritten. Ich genieße die langsame, fast neckische Ankunft der Performenden, die im Bildfragment überlebensgroß präsent sind.
Die Türen werden aufgerissen, die Künstler*innen betreten den Saal. Die Vorfreude wird belohnt: Uns bietet sich ein ungewöhnlicher Anblick. Zé de Paiva und Nasheeka Nedsreal sind komplett schwarz gekleidet, zwei an ihnen befestigte Kameras produzieren Nahaufnahmen ihrer Gesichter, eine weitere Kamera fängt ihr Blickfeld aus ihrer jeweiligen Perspektive ein. Ein Live-Feed der Bilder wird auf diverse Wände im Raum projiziert. De Paiva und Nedsreal wahren durch Bewegung und Blickrichtung die Kontrolle über die Aufnahmen. Ihre Gesichter bleiben permanent im Bild. Sie sind Betrachtende und Betrachtete zugleich. Auch das Publikum spielt diese Doppelrolle. Wir sehen die Bilder und die sich bewegenden Körper – live. Im abgeschotteten Raum der Empore produziert die Kamera auch Videos der Zuschauenden und wirft sie vergrößert an die Wand. Ich entdecke mein Bild, mal als vorbeihuschende Regung, mal eingefroren im Raum. An der Wand, direkt vor mir, sehe ich auch Videos von Zuschauenden, die auf der anderen Seite des Raumes sitzen. Ihre Körper kann ich nicht wahrnehmen, doch ich realisiere ihre Präsenz im Bild. Eine Videomontage versammelt Aufnahmen der beiden Künstler*innen bei früheren Proben: Sie vollführen die gleichen Körperbewegungen wie jetzt, doch in anderen Räumen, die quasi in einem Übermaß an Bildlichkeit versinken.
De Paiva und Nedsreal manipulieren aktiv, wie das Publikum den Raum okkupiert. Sie führen jede Zuschauende an der Hand, geleiten sie an einen anderen Ort auf der Empore, kreieren neue Konstellationen im Raum. Begleitet von einem dynamischen Drum-Beat tanzen sie, ihren Weg durch das Publikum webend, das nun verstreut im Saal steht. Unmittelbar vor mir vollführt Nedsreal einen Hiphop-Floor-Shuffle und ich gebe mich ihrer Bildproduktion hin. Mein groovender Körper projiziert auf eine Wand im Raum, die ich selbst nicht sehen kann. De Paiva bewegt seinen kameratragenden Kopf dicht über die tappenden Füße einer/eines anderen Zuschauenden und dann nah an sein/ihr Gesicht, ein Move, der sie/ihn umso stärker spüren lässt, dass die eigenen Bewegungen beobachtet und nachverfolgt werden. Dabei geht es nicht nur um das, was die Kamera erfasst, sondern auch um die Frage, wer sich im Bild befindet, das die Narrative der Bildproduktion generiert.
In den „Cyclops“ betont de Paiva eine weitere Dimension des Prozesses der Visualisierung: die derjenigen, die die Kamera hält. Die Performenden eignen sich das Narrativ als schwarze Protagonist*innen an, die das räumliche Arrangement im Raum treiben und das Bild inszenieren. Doch sie schaffen nicht nur das Bild, sondern definieren auch seine disruptive Verbreitung im Raum.
In einem anderen Moment wählen de Paiva und Nedsreal nach einem Zufallsprinzip Zuschauende, die sie bitten, als Gemeinschaft zu posieren. Sie inszenieren Bilder, die als klassisches Familienfoto oder Aufnahmen einer Gruppe von Freund*innen daherkommen. Ihre Auswahl und Positionierung implizieren ein Element von ethnisch oder altersabhängig definierten Rollen oder Beziehungen in der Darstellung. Damit verweisen sie auf die Funktion der Kamera in der Kolonialgeschichte und spielen mit der Macht der/des Bildschaffenden. Während wir ihnen bei der Produktion ihrer Polaroidfotos zusehen, kommen mir zahlreiche Fragen in den Sinn: Wie werde ich wahrgenommen? Wieviel von mir findet sich im Bild? Was sehe ich von dir im Bild – und ist das alles wahr? Verstehe ich die Perspektive derjenigen, die den Sucher hält, wenn ich durch ihn blicke?
Eine Woche später, just als mein Artikel erscheinen soll, stellt sich heraus, dass tanzschreiber-Autor David Pallant bereits im April 2019 über genau diese Performance berichtete. Ich lese seinen Text „Photo/synthesis” und bin fasziniert, wie ähnlich Pallant und ich uns in unserer Konzentration auf bestimmte Aspekte der Performance und in unseren Beobachtungen zu dem, was sie vermittelt, sind. Diese zufällige Überschneidung offenbart jedoch auch einiges über das sich in diesen kurzen drei Jahren gewandelte Verhältnis zu den Bildern. War die Zeit vor der Pandemie bestimmt vom Glück der öffentlichen Reaktion auf ein Instagram-Post, drängte uns Covid19 zurück in die Abgeschiedenheit des geschlossenen Raumes und kanalisierte unsere Beziehungen noch weiter auf die digitalen Medien, nicht selten auch als Ersatz für die Realität. Team-Meetings fanden online statt, zu Geburtstagsfeiern und Beerdigungen traf man sich via Zoom. Drei meiner Cousinen heirateten wegen der Covid-Beschränkungen in Indien im kleinen Kreis; die Partys verfolgten wir via Livestream. Die älteren Familienmitglieder schickten ihre gesegneten Wünsche – geheiligt und unersetzlich – auf digitalem Weg. Ich machte einen Screenshot meiner Cousine und ihres Partners, als diese ihren Hochzeitsritus vollzogen. So konnte ich mein lächelndes Antlitz neben ihr Bild montieren und meine Gegenwart unterstreichen. Effizienter als Airbrushing des eigenen Gesichts ist die Veränderung des Hintergrundbildes bei Videocalls: Hier sitze ich nun – an einem tropischen Strand oder in einer fernen Galaxie. Aus unseren eigenen vier Wänden heraus erklären wir unsere Träume. Wir lernen, das Selbst aktiv in eine Welt der Bilder zu fügen und spielen so mit dem „I“ (dem „Auge/Ich“) im allsehenden Gesicht des Zyklopen. In diesen drei Jahren hat sich einiges an der Materialität der Bilder verändert. Macht das auch die Performance „Cyclops“ zu einer anderen? Oder ändert das nur unseren Blick?
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
Fotos: “Cyclops” von Zé de Paiva, Performance: Nasheeka Nedsreal, Zé de Paiva ©Zé de Paiva
Nach langer Zeit wurde die Performance “Cyclops” von Zé de Paiva zusammen mit Nasheeka Nedsreal (Premiere: 4. April 2019) vom 15.-18. September 2022 wieder am Ballhaus Naunynstraße aufgeführt.