„Phasenübergänge Vol.3“, Nuria Hoeyng & Anne-Kathrin Tismer, MAASA ©Bahar Kaygusuz

Performative Universen

Mit „Phasenübergänge Vol. 3“ untersuchen die MAASA-Tänzerinnen Merav Leibküchler, Vilja Mihalovsky, Lena Strützke und Anne-Kathrin Tismer am 25. September 2022 das Zusammenspiel der gebauten Umwelt auf dem Berliner Sharounplatz und der Menschen, die sich darin bewegen. Fortsetzungen im Märkischen Viertel und in Siemensstadt werden am 8. und 9. Oktober stattfinden.

Ein grauer Samstagnachmittag Ende September, die halbe Stadt ist gesperrt wegen des rollenden Berlin-Marathons und auf dem Sharounplatz vor der Philharmonie am Kulturforum sind nur wenige Passant*innen unterwegs. Es tropft hin und wieder und aus der Ferne ertönen die Stimmen von Kommentatoren, Polizeisirenen und jubelnde Menschenmengen. Ohne ein Ticket zu lösen oder mich irgendwo anmelden zu müssen, nehme ich kurz nach 17 Uhr auf einer Bank Platz. Mein Blick geht in Richtung der Treppen zu den Museen, hinter mir ragen die postmodernen Hochhäuser am Potsdamer Platz empor.

Wie aus dem Nichts erscheinen die vier Performerinnen Merav Leibküchler, Vilja Mihalovsky, Lena Strützke und Anne-Kathrin Tismer mehrere Minuten nach eigentlich angesetztem Beginn der Vorstellung auf dem Sharounplatz, plötzlich sind sie einfach da – und ich dachte bereits, die Performance fände wegen des Regenwetters doch nicht statt. Die langsamen Bewegungen sind irgendwo anzusiedeln zwischen futuristischen Robotergängen und meditativen Fitnessübungen. Aus einer Lautsprecherbox kommen atmosphärisch passende Klänge, die die ausdehnende Leere im Weltall zu mimen scheinen. Und auch die Tänzerinnen dehnen sich auf der mit Pfosten begrenzten viereckigen Fläche aus, bewegen sich mal synchron, und dann doch wieder individuell. Zwischendurch erklingt intensives Vogelgezwitscher aus den Lautsprechern. Auch die Geschwindigkeit der Tänzerinnen variiert, von sanft-verträumt, über einen dynamischen Swing, der mich an die Filme mit Ginger Rogers und Fred Astaire erinnert, bis hin zu Starre und liegenden Ruhephasen. Die vier Phasen, „Quarks“, „Verklumpen“, „Driften“ und „Integrale“, sollen laut Konzeptbeschreibung auf der Website von MAASA – die mittlerweile einjährige projektspezifische Formation der NEWSTARDANCECOMPANY – die Entwicklung eines neuen Universums nachbilden. Sie folgen einer von Nuria Hoeyng und Anne-Kathrin Tismer entwickelten Choreographie, die sich den räumlichen Umgebungen anpasst und auf physikalische Fragestellungen involviert. Gleichermaßen sollen die Bewegungen der Tänzerinnen Bezug auf die organische Architektur der Philharmonie nehmen, entworfen von Hans Sharoun. Die gestreckten, gebogenen Arme der Performerinnen geben neue Sichtachsen vor und lassen die Blicke über die gebaute Umwelt schweifen, die in diesem Rahmen umso inszenierter wirkt. Sobald die vier Tänzerinnen ihr Universum erschaffen haben, verlassen sie den Sharounplatz.

Das Publikum des halbstündigen Happenings wird zufällig generiert, mutmaßlich sind nur wenige Menschen wegen der Performance zum Kulturforum gekommen. Für mich ist es gerade diese Beiläufigkeit, die „Phasenübergänge Vol. 3“ interessant macht. Ich beobachte die temporären Zuschauer*innen, auch ein bekannter Museumsdirektor schwebt vorbei, aber scheint die Tänzerinnen kaum wahrzunehmen. Manche Passant*innen gehen, andere fahren mit E-Scootern mitten durch das urbane Bühnenbild. Dieses Eindringen in den Alltag ist auch Teil des Konzepts von „Phasenübergänge Vol. 3“, wie MAASA auf ihrer Website schreiben: „So entstehen an unterschiedlichen Orten im öffentlichen Raum neue Kompositionen und die Orte verändern sich in der Wahrnehmung für diejenigen, die es gesehen haben, dadurch, dass dort etwas stattfand. Die unsichtbaren Bewegungsabdrücke bleiben bestehen, wie unsere DNA auch noch an Orten nachweisbar ist, auch wenn wir nicht mehr da sind.“ Diese Vorstellung erinnert mich an verschiedene Theorien urbaner Praktiken, darunter an die zur Taktik von Michel de Certeau in „Kunst des Handelns“ (1980).[1] Mit diesem Begriff können kurzfristige, subversive Interventionen im urbanen Raum, die als Strategie die Veränderung hegemonialer Raumordnung verfolgen, bezeichnet werden. Als Spuren einer gelebten Erfahrung schreiben sich die taktischen Bewegungen der Tänzerinnen, die „Phasenübergänge“, ein in den Ort, an dem sie ausgeführt werden – zum Beispiel auf dem Sharounplatz, im Märkischen Viertel und in der Siemensstadt –, wodurch die Passant*innen diesen möglicherweise künftig nicht mehr nur als Transitfläche wahrnehmen, sondern ihn mit einer Erinnerung verbinden, die ihnen gar ein neues Universum eröffnen könnte, aus dem wiederum neue vielfältige Universen gebildet werden, die sich aufeinander beziehen. Ein unendlicher Prozess wäre folglich in Gang gesetzt, der sich verselbstständigt und stets neue Formen annimmt.


Weitere Termine „Phasenübergänge Vol.3 von Nuria Hoeyng und Anne-Kathrin Tismer, NEWSTARDANCECOMPANY/ MAASA >>> 1./2. Oktober 2022, 16:30 Uhr Scharounplatz, 10785 Berlin // 8. Oktober 2022, 16:30 Uhr im Märkischen Viertel, auf der Rückseite der Bauten von Chen Kuen Lee, zwischen Senftenberger Ring und Calauer Straße, 13435 Berlin // 9. Oktober 2022, 16 Uhr vor dem Projektraum für Kunst und Architektur Scharaun, Jungfernheideweg 4, 13629 Berlin-Siemensstadt.


Konzept, Idee, Choreografie: Nuria Hoeyng, Anne-Kathrin Tismer. Tanz: Merav Leibküchler, Vilja Mihalovsky, Lena Strützke, Anne-Kathrin Tismer. Kostümkonzept: Nora Fuchs, Nuria Hoeyng, Merav Leibküchler, Anne-Kathrin Tismer. Produktionsleitung: Kristina Bernhardt. Produktionsassistenz: Keno Tismer. Fotografie: Bahar Kaygusuz. Musik: Yeong Die. Field recordings: Anne-Kathrin Tismer. Musik mix: Nuria Hoeyng. Audiotexte deutsch homepage: Anne-Kathrin Tismer. Audiotexte finnisch homepage: Vilja Mihalovsky. Audiotexte hebräisch homepage: Merav Leibküchler. Tänzerische Übersetzung Audiotext homepage: NEWSTARDANCECOMPANY-Togo.


[1] Vgl. De Certeau, Michel (1980/1988). Kunst des Handelns. Berlin: Merve Verlag.