„nigunim“, David Bloom ©Dieter Hartwig

Auch das war am Sinai

Ein Mönch, ein Priester und ein Rabbi gehen in eine Bar… Streicht das. Ihr kennt den wahrscheinlich schon. Gut. Ein*e jüdische*r Performer*in nähert sich der antiken Kommode der Großmutter… Worauf das hinausläuft? Was glaubt ihr? Haben wir Platz für diesen Witz? In einer Tanzzeitschrift? Heute und in Deutschland? Und wer darf ihn erzählen?

Tatsächlich gibt es keinen Witz zum Erzählen. Doch ich nutze die Chance der Nuance, die die Kunst bietet, und fordere zurück, was gesagt werden könnte. David Bloom macht es ebenso in nigunim. Seine Performance feierte am 23. März 2023 in der kuratorischen Falte Narratives and Transgressions der Tanzfabrik in den Uferstudios Premiere.

Mit jüdischen liturgischen Gesängen – auf Hebräisch nennen wir sie nigunim – reklamiert der Choreograf David Bloom die Narrative des Judaismus als Medien der Reflektion seiner persönlichen und politischen Beziehung zum Glauben. In Wort und Lied präsentiert er die verschiedenen Positionen, die sich als jüdisch identifizierende Personen mit ihrem Körper bekunden.

Bloom betritt entspannt die Bühne, herzlich einige Gäste im Publikum begrüßend. Herzlichkeit durchdringt auch die Geschichte, die er nun erzählt. Sie handelt von seinen Ururgroßeltern, die 1894 von Belarus in die USA emigrierten. Identifiziert als „Jüd*innen“ in der alten Heimat, waren sie fortan „Weiße“. Bloom setzt Identität als zentrales Thema in nigunim. Zwei parallele Wahrheiten sind dabei möglich. Vorsichtig hebt er ein Messingtablett hoch. Von den Ururgroßeltern erbte er das Tablett und die Geschichte. Und beide behandelt er mit großer Sorgfalt. Doch – Bamm! Nun kracht es doch auf den Boden, und die silbernen Bälle, die es trug, rollen durch den Raum. Nicht nur zwei Wahrheiten, sondern viele Wahrheiten, Identitäten und Positionen – zerstreut überall. In der Performance vernehmen wir sie als Klangschnipsel, kurze Statements über jene, die neben ihrem Jüdischsein weitere Identitäten haben: Schwarze Jüd*innen in Amerika, Jüd*innen gegen die Besatzung und Apartheid, Jüd*innen, die sich als queer identifizieren. Sich überlagernde Stimmen jagen einander auf der Suche nach – so der Abendzettel – einem queeren, inklusiven, aktivistischen jüdischen Sein. Inspiriert vom Geist der Debatte und der Argumentation des Talmud ringen sie miteinander. „Was tun? Was tun?“ fragt eine ernste Stimme.

Auch Bloom scheint sich diese Frage zu stellen, findet dann jedoch Halt in Gesang und Bewegung. Unter dem Regen der Stimmen, zwischen den verstreuten Silberbällen liegend, beginnt er leise zu summen. Das Summen wächst zur Melodie, überlagert sich nach und nach mit Stampfen, Klatschen, Momentum und Worten. Die Worte finden den Gesang – ein Lied, das Bloom selbst komponierte: „We were all there at Sinai / Wir waren alle am Sinai“. Er präsentiert eine hypothetische Liste jener, die am Berg Sinai waren, dem wichtigsten Ort der göttlichen Offenbarung in der jüdischen Theologie. Er nennt Marxist*innen, Freudianer*innen, Buddhist*innen, Jüd*innen und all jene, die im Dissens leben.

Im Gespräch nach der Show berichtet Bloom, dass er im Rahmen seiner Recherche sich jüdisch identifizierende Aktivist*innen, Bodywork-Praktiker*innen und auch seine Eltern interviewte. Beim Aufspüren der Schnittstellen mit Personen, die mit Spiritualität und Aktivismus oder Judaismus und Körper arbeiten, formte der Wunsch nach Überwindung der scheinbaren Widersprüche die Arbeit des Künstlers. Genau das wird klar, wenn wir die Stimme eines Rabbis hören, der als Body-Mind Centring® Praktiker wirkt, oder einen, der einst Drag Queen war, oder eine jüdische Anwältin der IfNotNow Bewegung. Es wird klar, dass sie für den Choreografen auch am Sinai waren.

Nigunim, die Performance, ist vor allem dann fesselnd, wenn Bloom vor sich hin summend die Bälle aufsammelt, wenn er nicht etwas vorführt, sondern es in einen persönlichen Raum kanalisiert. Er findet sie zwischen Beinen, unter Kissen, hinter dem Bühnenvorhang, hinter Lautsprecherboxen. Er begegnet dem Publikum und bleibt zugleich für sich. Bloom singt ein nigun von Menachem Creditor, ein Lied, das ihn beruhigt und zugleich vorantreibt. „Olam Chesed Yibaneh. Wir bauen diese Welt mit Liebe.“ Die Wiederholung über einen langen Zeitraum hinweg lässt Raum für den Zweifel: Wirklich? Die ganze Welt? Geht das überhaupt noch? Wird Liebe allein genügen? Repetitiv, in Endlosschleife und ohne die Intention, uns überzeugen zu wollen, wird der nigun ganz organisch zum Ohrwurm, zum Schlaflied und zum Motto: „Olam Chesed Yibaneh. Wir bauen diese Welt mit Liebe.“

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Die Solo-Performance „nigunim“ von David Bloom wurde vom 23. bis 25. März 2023 von der Tanzfabrik Berlin in den Uferstudios präsentiert.