„à mort“, Claire Vivianne Sobottke ©Mayra Wallraff

Symphonie der Schamlosigkeit

Claire Vivianne Sobottkes neue Arbeit „à mort — Ein choreografischer Liederzyklus für drei Stimmen“, die vom 22.-25. März 2023 in den Sophiensælen gezeigt wird, ist ein Sammelsurium unzähliger musikalischer, körperlicher, bühnen- und kostümbildnerischer Details, hinter dem eine beeindruckende Ensembleleistung steckt. Das Stück erzählt lustvoll und explizit von der Vergeblichkeit aller Versuche der Einhegung des weiblichen nackten Körpers. 

Der Boden ist mit braunem Teppich bedeckt, es hängen Turnringe von der Decke, auf der Bühne befinden sich ein aus Brettern zusammengeschusterter Kletterbaum und zwei große Pappmaché-Steine, und überall sind einzelne Körpergliedmaßen und Knochen verteilt (Raum/Objekte: Clementine Pohl, Yoav Admoni). Drei nackte Frauenkörper, alle mit langem Haar, krabbeln auf allen Vieren durch die Ödnis der Landschaft und geben sich zwischendurch immer wieder nicht-menschlich wirkendem Sozialverhalten hin (Performance/Entwicklung: Moss Beynon Juckes, Stina Fors, Claire Vivianne Sobottke). Beim Betreten des Festsaals der Sophiensæle fühlt man sich ein wenig, als sei man in einem Gehege friedlicher Raubtiere gelandet. Dann, nachdem das Publikum Platz genommen hat, beginnt ein Gesang: Es geht um Verletzungen und gebrochene Herzen, um Regeneration, Zusammenflicken und abermaliges Neuanfangen. Damit ist bereits die schon im Titel gegebene zyklische Struktur von Claire Vivianne Sobottkes neuer Arbeit „à mort — Ein choreografischer Liederzyklus für drei Stimmen“ vorweggenommen: Jedes der vier Kapitel des Stückes ist immer auch ein neuer, lustvoller Anlauf Richtung Schamlosigkeit.

Chapter one: remember that you must die, wird dann das erste Kapitel angekündigt, und aus den Tieren werden Menschen, die sich, in allen Intonationen lachend, ihrer Sterblichkeit vergegenwärtigen. Während sie hin und her und übereinander rollen, berühren sie immer wieder spielerisch den Wahnsinn. Dann scheint es, als würde eine nach der anderen von den herumliegenden Silikon-Händen ergriffen, die plötzlich in Mündern stecken, zwischen den Beinen herausschauen oder in Haaren herumwurschteln. So bildet sich ein surreales Körperknäuel mit wuselnden hybriden Händen, deren fleischlicher oder synthetischer Ursprung bald ununterscheidbar wird. Die wimmelnden Gliedmaßen und das gackernde Lachen werden durch das stroboskobartige Flackern des Lichts und die wimmernde Musik verstärkt, bis der ganze Raum von Vibrationen der Hyperlebendigkeit im Angesicht des Todes erfüllt ist.

Zu Beginn von Chapter two: the wild boys kleiden sich die Performerinnen zum ersten Mal an und sind nicht wiederzukennen. Die drei kleinen Jungs lassen keine Geste männlicher Dominanzbekundung aus: Sie pinkeln, rauchen und klettern und wirken dabei so albern, dass man nichts davon richtig ernst nehmen kann. Dann wieder intoniert einer eine Abwandlung von Schuberts Winterreise und treibt damit die Performance von Traurigkeit als vollkommen entleerte, bloß noch ästhetische Geste auf die Spitze. Und bevor man sich entscheiden kann, ob diese Art von Maskulinitätsgehabe, die vor allem aus Versuchen, Scheitern und Spielen besteht, eigentlich schon bedrohlich oder eher unbedenklich ist, haben sich die Performerinnen jeglicher Kleidung und Männlichkeit auch schon wieder entledigt. Dieses beständige Aus- und Anziehen ist das dramaturgische Skelett von „à mort“. Das immer wieder stattfindende Ver- und Enthüllen der Körper führt eine grundlegende Erotik ins Stück ein und sorgt dafür, dass man sich nie ganz an die Nacktheit der Körper auf der Bühne gewöhnen kann.

Chapter three: how to kill an animal sodann inszeniert eine groteske Jagdszene, in der sich ein nackter Jäger in einen zunehmend erotischen Rausch der Dominanz über sein ebenso nacktes Beutetier hineinsteigert. Die dabei zutage tretenden Dynamiken der Exotisierung der noch lebendigen Beute, des Vergnügens an der Jagd und des totalen Desinteresses an der erlegten Beute bei gleichzeitiger Selbstverherrlichung für den Akt wecken Assoziationen zu Pickup-Artists, die sich ihrem Objekt der Begierde auf ähnlich theatralisch-gewaltvolle Weise nähern. Im letzten Kapitel wird weibliches Begehren dann vollends aus seinem Gehege befreit: Zu beschwörenden Klängen von Jagdhörnern und Streichinstrumenten (Musikerinnen: Abigail Sanders, Elena Kakaliagou) sowie elektronischer Samplings (Komposition/Musik: Stellan Veloce, Kaj Duncan David) wird eine Art exorzistisches Ritual vollzogen, bei dem zwei Performerinnen an Turnringen durch die Luft fliegen und eine auf einem Traktor sitzend die Symphonie mit Deathmetal growls begleitet. Hier tut sich wohl der buchstäbliche Albtraum des Patriarchats auf. Dennoch, die Schamlosigkeit im Umgang mit dem eigenen weiblichen Körper muss immer wieder neu zurückgewonnen werden — und so rollen am Ende auch wieder nackte Körper über die Bühne.


„à mort“ — Ein choreografischer Liederzyklus für drei Stimmen von Claire Vivianne Sobottke (Premiere: 22.03.2023) ist bis zum 25.03.2023 in den Sophiensælen zu sehen, Tickets unter sophiensaele.com.

Choreografie/Konzept/Performance: Claire Vivianne Sobottke – Komposition/Musik: Stellan Veloce, Kaj Duncan David – Musikalische Mitarbeit/Französisches Horn: Abigail Sanders, Elena Kakaliagou – Von und mit: Moss Beynon Juckes, Stina Fors, Claire Vivianne Sobottke – Raum/Objekte: Clementine Pohl, Yoav Admoni – Lichtdesign/Technische Leitung: Catalina Fernandez – Kostüm: Lea Kieffer – Dramaturgische Beratung: Mila Pavićević – Outside Eyes: Sheena McGrandles, Maria Scaroni – Künstlerische Produktionsleitung: Simone Maria Graf.