„On Being Human as Praxis“, Elaine Mitchener ©Camille Blake

Körper ohne magisches Vermögen

Die Aufführung „On Being Human as Praxis“, die am 19. März 2023 im Rahmen von MaerzMusik im Haus der Berliner Festspiele ihre Livepremiere hatte, bringt auf Initiative der interdisziplinären Künstlerin Elaine Mitchener Neue Musik, Tanz und Vokalimprovisation mit Texten Sylvia Wynters zusammen. Dabei verfehlen jedoch ausgerechnet die Körper den Text.

Das ihresgleichen suchende Werk der jamaikanischen Philosophin, Dramatikerin, Essayisten und Schriftstellerin Sylvia Wynter, die in ihren jungen Jahren auch als Tänzerin arbeitete, erstreckt sich über alle Disziplinen hinweg. So ist es naheliegend, dass sich gerade Elaine Mitchener, die sich als Vokalistin, Improvisatorin, Komponistin, bildende Künstlerin und Performerin ebenfalls nicht um Genre-Unterteilungen schert, Wynters grenzüberschreitendem Opus annimmt. Für das Projekt „On Being Human as Praxis“, dessen Titel einem Essayband über Wynter entnommen ist, lud sie fünf Komponist*innen und den Choreografen Dam Van Huynh ein, Wynters Projekt einer Neudefinition der europäisch-kolonial geprägten Idee des Menschseins musikalisch-tänzerisch auszulegen. Die fünf kurzen, alle zwischen 2019-2020 entstandenen Stücke wurden von einem Ensemble, der MAM.manufaktur für aktuelle musik (Richard Haynes, Paul Hübner, Sabrina Ma, Sarah Saviet, Caleb Salgado), den zwei Tänzer*innen Ieva Navickaite und Tommaso Petrolo sowie Mitchener selbst als Vokalistin und Performerin auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele interpretiert.

Das Publikum wird an drei Seiten der Hinterbühne platziert, und schaut damit auch auf das an diesem Abend unbesetzte Auditorium. Daraus scheinen sich Möglichkeiten anderer Sichtweisen zu eröffnen, über die das sonst Nicht-Beachtete in den Blick gerät. Mehr als eine andeutende Geste wird daraus im Verlauf von „On Being Human as Praxis“ aber nicht — zu sehr orientieren sich die Stücke an der Vorderseite der Bühne, und zu groß ist der Abstand zwischen Performer*innen und Publikum, sodass bei mir als Zuschauer kaum ein Gefühl von Nähe oder Bezogenheit aufkommt. Die Aufführung beginnt mit einer plötzlichen, kurzen Kakophonie aus Klängen, Geräuschen und Bewegungen, bei der sich die Performer*innen wie eine Welle über die Bühne ergießen und gleichzeitig ihre Instrumente, Stimmen und Körper einer Art Systemcheck zu unterziehen scheinen. Nachdem alle Frequenzen ausgelotet sind, verebbt der Lärm, die Bühne lehrt sich wieder, und die Notenpulte, Stühle, Instrumente und Mikrofonständer werden neu arrangiert — ein Ablauf, der sich zu Beginn jedes Stückes, und manchmal auch währenddessen wiederholt.

Die erste Komposition, THE PROBLEM WITH HUMANS Volume 1 — An Overview From Under von Jason Yarde, bringt die Ermordung George Floyds mit Passagen aus Wynters Text ins Gespräch. Das verdeutlicht sich in den immer wiederkehrenden Momenten, in denen Mitchener, die sich durch unzählige Facetten sprachlicher und nicht-sprachlicher stimmlicher Ausdrucksweisen singt, bei verständlichen oder bekannten Zitaten innehält. Während nach und nach jede*r der bunt gekleideten Performer*innen einen musikalischen oder tänzerischen Solo-Moment durchläuft, zeichnet sich langsam eine disziplinär-ästhetisch-diskursive Kollision ab, die sich im Laufe der Aufführung immer weiter zuspitzen wird. 

Den Übergang zum folgenden Stück Gasping for air / considering your purpose / Dissolving von Matana Roberts, das sich ebenfalls mit Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen beschäftigt, vollzieht Mitchener mit dem titelgebenden „Gasping…………….for air“. „Gasping“ beendet das erste Stück, und „for air“ leitet das nächste ein. Die lange Pause dazwischen ist der vielleicht eindrücklichste Moment des Abends. Überhaupt arbeitet Roberts Komposition mit vielen Momenten der Stille und Bewegungslosigkeit, in denen sich kurzzeitig sowohl Räume der Andacht an die Ermordeten, als auch der Ohnmacht angesichts des unfassbaren Ausmaßes der Gewalt auftun.

Im anschließenden White Radiance™ von Laure M. Hiendl ist die Bühne titelgemäß in gespenstisches, weißes Licht getaucht (Lichtdesign: Michael Picknett), während Mitchener zu elektronisch-analogen Klängen auf einem Podest von einer langen Papierrolle einen Textausschnitt von Wynter über Hautbleichcremes vorliest. Die immer wieder eingespielten Radiotrailer, die plötzlich einsetzenden Verzerrungen sowie die seltsam unbeteiligt umherlaufenden Performer*innen geben der Szenerie einen zusätzlich dystopischen Anschein — dabei geht es hier bloß um den normalisierten Horror weißer Vorherrschaft. Tansy Davies’ viersätziges The Rule is Love fällt durch seine verhältnismäßige Statik auf: In Abwesenheit der Tänzer*innen begleiten die Musiker*innen bewegungslos Mitcheners mal innerlich-verträumte, mal körperlich-perkussive Vokalimprovisationen. Seltsam, dass ausgerechnet bei dem am konventionellsten scheinenden Stück des Zyklus die ersten Zuschauenden den Saal verlassen. Das abschließende H. narrans von George Lewis nimmt in seinem Titel Bezug auf Wynters These, dass sich Menschen nicht etwa biologisch von Tieren und Pflanzen unterscheiden, sondern durch ihr Erzählvermögen. Während sich alle Tänzer*innen und Musiker*innen zu einer Art über die Bühne mäandernden fluiden Körperskulptur zusammenfinden, fungieren Wynters Texte einmal mehr buchstäblich als Libretto: Mit opernhafter Virtuosität singt Mitchener von der südafrikanischen Blombos-Höhle, in welcher die ältesten bisher bekannten Felsmalereien entdeckt wurden, wodurch auch wissenschaftlich die Zweifel an Afrikas besonderer Stellung als Wiege der Menschheit ausgeräumt sind. Das Zusammenfinden von Künstler*innen unterschiedlicher Disziplinen, das Verschränken traditioneller westlicher Musikformen mit dekolonialem Diskurs zu einer gesungenen Lecture Performance — an diesen und vielen anderen Stellen des Abends tauchen immer wieder solche zusammengesetzten Formationen auf, die wohl als Verweise auf Wynters Konzeption der hybriden Natur des Menschseins verstanden werden können.

Doch so schön und wichtig die Geste der Würdigung Sylvia Wynters und ihrer Rekonzeptualisierung des Menschseins ist, so sehr scheitert die Aufführung an der alles entscheidenden Stelle der Verkörperung. Ausgerechnet Van Huynhs Choreografie, von der man erwarten sollte, dass sie ein somatisches Verhältnis zu den Themen der Stücke inszeniert, verliert sich permanent im standardisierten Vokabular europäischer zeitgenössischer Tanztechniken. Dadurch wirken die Bewegungen von Navickaite und Petrolo wie entleerte Ornamente der Musik und des Textes, was letzteren zum rein ästhetischen Material degradiert und damit jeglichen persönlichen Bezug der Interpret*innen durchstreicht. Damit wird eine fatale, aber leider nur allzu übliche Dynamik re-inszeniert: Während sich Mitchener als einzige Schwarze Person auf der Bühne durch Wynters Abhandlungen über das Erbe des Kolonialismus’ ackert, vermitteln die sie umgebenden, überwiegend weißen Musiker*innen und Tänzer*innen den Eindruck, als ginge sie all das nichts an. Vielleicht ist das ein Resultat der (zu) vielen Übersetzungsebenen, die sich zwischen Ausgangstext und Interpret*innen auftun. Womöglich bricht sich hier auch ein traditioneller Eskapismus der klassischen Musik Bahn, welcher sich auch durch die mittlerweile gängige Integration von Diskurs in der Neuen Musik nicht völlig aushebeln lässt.

Eines der bekanntesten Wynter-Zitate findet sich auch im Abendzettel: „Menschliche Wesen sind magisch. Bios und Logos. Worte machen Fleisch, Muskeln und Knochen, animiert von Hoffnung und Verlangen, Glauben materialisiert als Taten, Taten, die unsere Aktualitäten kristallisieren.“ Genau diese Verwandlung von Worten in Fleisch, das von Hoffnung animiert wird und sich in Taten manifestiert, ist das Fundament eines Verständnisses von Menschsein als Praxis. Doch eben dieses magische Vermögen hat dem Abend gefehlt, obwohl es ihm so sehr bedurft hätte, um dem dekolonialen Projekt Sylvia Wynters angemessen Rechnung zu tragen.


„On Being Human as Praxis“ von Elaine Mitchener / Dam Van Huynh / Jason Yarde / Matana Roberts / Laure M. Hiendl / Tansy Davies / George Lewis / MAM.manufaktur für aktuelle musik wurde als Live-Premiere am 19. März 2023 im Programm von MaerzMusik 2023 im Haus der Berliner Festspiele aufgeführt.

Das Festival MaerzMusik 2023 findet vom 17. bis 26. März 2023 statt. Programm und Ticketinformationen unter berlinerfestspiele.de.