Choreografin Modjgan Hashemian beschäftigt sich in „Gänsehaut“ mit der Haut als Archiv von Geschichten und Berührungen. Premiere des Stücks für Menschen ab zwölf Jahren war am 11. März 2023 im Theater an der Parkaue.
Eine rosafarbene, mehrschichtige Kraterlandschaft bedeckt die Mitte der Bühne (Bühnenbild: Shahrzad Rahmani). Aus einzelnen Stellen ragen Arme oder Beine heraus, wie aufgestellte Haare auf geröteter Haut. „Das sind die vielen kleinen Punkte auf der Haut. Aus der Nähe betrachtet, sieht es aus wie kleine Berge.“ Stimmen von Jugendlichen tönen aus den Lautsprechern. Sie beschreiben, was Gänsehaut ist und was sie für sie bedeutet. In die Recherchephase dieses Tanz-Theaterstückes waren drei Schulklassen aus Berlin-Lichtenberg einbezogen. Ihre Zitate tauchen wiederholt im Stück auf und finden auch im Programmheft einen Platz.
Zu elektronisch-poppiger Musik und in bunten Overalls rennen die sieben Performer*innen im Kreis (Kostüm: Cristina Lelli, Komposition: Oliver Doerell). Ab und zu bleibt eine Person stehen und breitet – sich nach einer Berührung sehnend – die Arme aus. Mal wird dieser Wunsch erfüllt, mal abgelehnt. „Wenn was Schlimmes vorgefallen ist, dann reicht oft schon die Umarmung der besten Freundin und dann fühlt man sich sicherer.“ Es ist eine Suche nach Kontakt und Zugehörigkeit. Es gibt einen Dialog zwischen Zweien, die nicht die gleiche Sprache sprechen; ein kollektives Riechen von frisch gemähtem Gras. Momente werden gezeigt, die sofort Erinnerungen in mir hervorrufen.
So auch ein ergreifender Monolog von Salome Kießling. Eine Zitrone in der Hand haltend, erzählt sie eine Geschichte, die Themen wie Sexualität, Intimität und Körper spannend verpackt. „Wer seine Zitronen nicht entkernt, liebt sich nicht.“ „Die Säure ist ein Mittel zur Selbsterhaltung.“ Sie beschreibt die Mutter, die dem Kind, das nach Süßigkeiten fragt, eine Scheibe Zitrone zu essen gibt. Das Ensemble, das im Kreis um sie verteilt sitzt, reproduziert Sätze, die viele ständig zu hören bekommen, besonders im Jugendalter: „Du bist zu dick, zu dünn, zu laut, zu viel, …“ Dann beißt Salome in die Zitrone. Alles in meinem Mund zieht sich zusammen. Für einen Moment breitet sich wirklich Gänsehaut auf meinen Armen aus.
Die Tänzer*innen beginnen, Dinge aufzuzählen, die sie berühren. Es sind spezifische und doch universelle Nennungen, die durch ihre Nachvollziehbarkeit nah gehen. Von sanften oder schmerzvollen Momenten des Alltags, bis hin zu aktuellen sozio-politischen Themen. „Es berührt mich, dass ich die Pause allein verbringe.“ „Es berührt mich, dass so viele Mädchen nicht in die Schule gehen dürfen.“ Mit Ernsthaftigkeit werden Probleme thematisiert, die viele junge Menschen jeden Tag umtreiben. Das Spielen von Computerspielen gehört auch dazu. Ein Augenblick, der als tanzender Zweikampf beginnt, entpuppt sich bald als Kriegsspiel. Drei Tänzer*innen rollen durch die Krater des Bühnenbilds, verstecken sich hinter Erhebungen, bewegen ihre Arme, als ob sie Gewehre abfeuern würden. „… sich nicht mit der Realität beschäftigen wollen, deswegen spiele ich.“
„Gänsehaut“ ist eine circa 50-minütige Aneinanderreihung von Momenten, die Sinne und Berührungen aller Art erforschen. Die Inszenierung ist sprachlich kraftvoll, der Tanz gerät jedoch oft in den Hintergrund. Durch die Einspielung der Schüler*innenzitate scheint es, als hätten diese die Impulse für die einzelnen Szenen geboten. Das Stück hangelt sich entlang der Erfahrungen von Jugendlichen, die eben breit gefächert und nicht linear sind. Wahrscheinlich gerade deshalb gibt es viele berührende Momente, in denen der Titel des Stücks Wirklichkeit wird.
„Gänsehaut (12+)“ – Tanzstück von Modjgan Hashemian und Ensemble des Theater an der Parkaue, Premiere: 11. März 2023. Die nächste Vorstellung findet am 18. April 2023 statt. Weitere Informationen, Termine und Ticketbestellung unter parkaue.de.
Choreografie und Regie: Modjgan Hashemian Bühne: Shahrzad Rahmani Kostüme: Cristina Lelli Komposition und Musik: Oliver Doerell Dramaturgie: Luise Würth Künstlerische Vermittlung: Trang Trần Thị Thu Mit: Anna Athanasiou, Adamou Bance, Jessica Cuna, Kaveh Ghaemi, Elisabeth Heckel, Salome Kießling, Tenzin Chöney Kolsch, Claudia Korneev.