„HIGH TIDE“, Pauline Payen ©Alicja Hoppel

Überschwemmung im Dunkeln

In “HIGH TIDE” setzt sich Choreografin und Performerin Pauline Payen mit der einnehmenden Kraft von Trauer auseinander. Die 60-minütige Tanzperformance ist noch bis zum 2. April 2023 im DOCK 11 zu sehen. 

Unmittelbar, als sich die Türen zur Theaterhalle öffnen, füllt ein intensiver Schlagzeugrhythmus den Hinterhof des DOCK 11. Tontechniker*in und Schlagzeuger*in FiFi sitzt in der hinteren linken Ecke des weißen Saals und trommelt voller Kraft die Komposition von Charlie Aubry. Die drei Performerinnen Pauline Payen, Dorota Michalak und Lyllie Rouvière bilden durch ihre langsamen Drehbewegungen – um sich selbst und im Kreis um die Bühnenmitte – einen Kontrast zu den rasanten Trommelrhythmen. Selbst als die Musik durch Heavy-Metal-Schreie eskaliert, bleibt die gleitende Ruhe in den Körpern bestehen. Wie Planeten auf einer gesetzten Laufbahn rotieren sie sich weiter. Sie bewegen sich immer wieder von oben nach unten – mal gleitend, mal fallend – bevor sie in gespannter Langsamkeit wieder drehend zum Stehen kommen. 

Plötzlich füllt Stille den Raum. Nur vereinzelt wird sie unterbrochen durch die Geräusche der grauen Daunenjacken und das Quietschen der dunkelblauen Gummi-Regenhosen, die die Tänzerinnen am Körper tragen. Ihr Kreisen endet in einer Pose. Die drei Köpfe und Oberkörper sind über die gestreckten Beine gefaltet. Ihre Arme dehnen sich mit gespreizten Fingern Richtung Decke. Ein Moment der Anspannung, als würden sie durch Wut gelähmt und verbogen werden. Payen legt ihre Daunenjacke ab, füllt sie mit einem lauten Schrei und wirft sie gegen die Wand. Rouvière öffnet ihre Jacke mit dem Rücken zum Publikum. Es sieht so aus, als würde sie von innen leuchten. Das Scheinwerferlicht reflektiert sich an ihr, als würde sie aus Wasser bestehen, und wirft glitzernde Wellen an die Wand. 

Einen Moment später klemmen sich die Performerinnen Wäscheklammern an alle Zehen und Finger. Mit ausgestreckten Händen dehnen sie sich nach allen Seiten aus. Die Köpfe sind nach hinten gekippt und die Münder in einem stummen Schrei aufgerissen. Irgendetwas rollt durch die drei Körper. Immer wieder tauchen neue Bewegungsqualitäten auf: alarmbereite Richtungswechsel, ein Kreisen von Brustkorb und Hüfte, wütendes Stampfen. In einem Moment rollen sich Michalak und Rouvière kämpfend übereinander. Im nächsten Moment schütteln die drei Performerinnen synchron ihre Haare im Rhythmus ihres Atems, während sie auf den Knien über die Bühne laufen. 

Die verschiedenen Szenen wirbeln die Tänzerinnen durch Gefühle von Stagnation, Elend, Wut und Kummer – Symbole für die wellenartige Wahrnehmung von Trauer. Trauer umschließt eine Person vollständig. Wie Wasser gelangt sie in alle noch so kleinen Falten. Nichtlineare Strömungen zerren den Körper umher. Mal zieht sich alles zusammen, mal werden voller Wut Schuhe auf den Boden geschlagen. Doch durch harte Schnitte und teils fehlende Übergänge nehme ich das Ganze wie eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen wahr. Keine Szene bleibt für längere Zeit bestehen. “HIGH TIDE” wirkt wie ein Fotoalbum, welches man Jahrzehnte nach dem Erlebnis durchblättert. Ich schaue mit Distanz, erkenne Momente wieder. Die Unberechenbarkeit und die überwältigende Macht von Trauer, springt jedoch nicht auf mich über. Das beeindruckende Lichtdesign von Hanna Kritten Tangsoo verleiht dem Bühnengeschehen Tiefe. Körperschatten und eine Lichtinstallation, die die Dunkelheit organisch im Raum rotieren lässt, manifestieren Trauer als Strippenzieherin der Helligkeit, als impulsive und launische Kraft von außen.


„HIGH TIDE“ von und mit Pauline Payen (Performance: Dorota Michalak, Lyllie Rouvière – Sounddesign: Charlie Aubry alias Sacrifice Seul – Lichtdesign: Hanna Kritten Tangsoo – Tontechnik/Schlagzeug: FiFi) ist vom 30. März bis 2. April 2023 im DOCK 11 zu sehen.