„Yew“, Angela Schubot & Jared Gradinger © Dieter Hartwig

Am Puls der Natur

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Die Natur auf die Bühne zu holen, ist ein Trend im zeitgenössischen Tanz. Angela Schubot und Jared Gradinger choreografieren mit ihrem Trilogie-Auftakt „YEW“ im HAU eine posthumanistisch angehauchte Mensch-Pflanzen-Interaktion, die zum Verweilen einlädt. Sie nennen das einen „Garten ohne Erde“. Zwischen Bio-Emissions-Übertragung und getanzter Naturliebeslyrik.

Der Natur zu lauschen, sie zu kennen und zu verstehen, das ist eine Fähigkeit, die der Menschheit schon lange abhandengekommen ist. Beeren sammeln wir nicht mehr, sondern finden sie im Supermarkt, zu allen Jahreszeiten. Auch müssen wir weder Windrichtungen erspüren noch Tiere erspähen, um zu überleben. Unsere Sinne werden zu einem großen (Lebensan-)Teil von Smartphones und Computern geformt genauso wie unsere Körper. Und doch oder gerade deshalb gibt es ein wiederkehrendes Bedürfnis nach Naturverbundenheit. Wildnispädagogik und Waldkindergärten sind in Mode genauso wie das Essen von Lebensmitteln aus der Region und das Tragen von Outdoorkleidung. Faszinierend wie kritisch wurde eine Extremvariante dieses Körper-zurück-zur-Natur-Trends vor zwei Jahren auch durch den Aussteigerfilm „Captain Fantastic“ beleuchtet.

Im zeitgenössischen Tanz wird das Verhältnis von Mensch und Natur gerne mithilfe nicht-menschlicher Performer verhandelt. Eine Vorreiterin auf diesem Gebiet ist Mette Ingvartsen. Die dänische Choreografin inszenierte zwischen 2009 und 2012 Wahrnehmungen und Empfindungen von Natur, so etwa in „The Artificial Nature Project“, in dem sie mit einfachen Silberfolienschnipseln und Laubbläsern Naturphänomene imitierte. Auf den diesjährigen tanztagen suchte die Nachwuchschoreografin Emmilou Rößling nach einem „Versteck auf der Bühne“. Mit einem Moosteppichkostüm aus Polyester, in das sie selbst hineinkroch, deutete sie verschiedene Pflanzen- und Tierformen an und entschleunigte dabei ganz nebenbei das reizüberflutete Publikum.
Auch Angela Schubot und Jared Gradinger suchen in ihrem neusten Stück nach einer Anbindung an die Natur. Ihr ästhetisches Konzept der Entgrenzung menschlicher Körper und Identitäten soll in „YEW“ (dt. Eibe) durch ein „artübergreifende(s) Gruppenstück“ seine Erweiterung finden. Anlass zu diesem Trilogie-Auftakt, in dem das Duo seine Interessen an Garteninstallationen, Heilungsprozessen und Pflanzenmedizin verbindet, gab der Wunsch, „nicht-menschliche Wesen (gleichberechtigt) anzuerkennen und mit ihnen zu interagieren“. Schubot & Gradingers nicht-menschlichen Performer*innen sind wie bei Ingvartsen und Rößling synthetisch hergestellt, speisen ihre klangliche Materialität bzw. Körperlichkeit aber aus einem subtilen Naturereignis, das für Normalsterbliche eher selten zugänglich ist. Das funktioniert als Motion-Capturing der anderen Art: Bio-Impulse von Beifuß, Brennesseln, Buchen, Echivarea, Eibe, Eiche, Farn, Klee und Moos wurden hierzu per Softwareprogramm in Sounds ausgewählter Instrumente (Harfe, Schlagzeug und weitere) umgewandelt. Während der zweistündigen Performance-Installation knarzt und tropft es zunächst aus verschiedenen Lautsprechern (abstrahierte Blumentöpfe, die überall verteilt auf der Bühne herumstehen und –hängen). Im Laufe des Abends glimmen dann auch immer wieder wie aus dem Nichts kleine, beinahe melodische Soundfolgen auf, um gleich darauf abrupt zu verlöschen.
Der Körper als sich stets gestaltende und im Werden befindliche Substanz ist bei Schubot und Gradinger auch in „YEW“ deutlich zu spüren. Und trotzdem bekommt die laut atmende, orgiastische und zuweilen gewaltvolle Körperlichkeit, die sich in intimer Nähe vor und im Publikum in unterschiedlichen Dynamiken abspielt, hier auch einen übersinnlich-erotischen Touch. Die Selbstvergessenheits-Kunst, die Schubot & Gradinger in ihren, zumeist mit geschlossenen Augen ausgeführten, verästelten bis zirkulär-rhythmischen Symbiosen miteinander sowie in schwingender Co-Existenz zu den tongeborenen Pflanzenporträts zelebrieren, hat etwas Unwiederbringliches und Auratisches. Energie sei Form, die jenseits der fünf Basis-Sinne wahrgenommen werden könne, schreibt die spirituelle Naturforscherin und YEWsche Inspirationsquelle Machaelle Small Wight in ihrem Handbuch zur co-kreativen Gartenarbeit.
Eine Reise in andere Sphären dürfen sich die Zuschauer*innen dann auch zusammen mit Schubot, Gradinger und getrockneter Eibe errauchen. Wie Blumenkinder liegen sie auf einer imaginären Wiese, ja scheinen beinahe in diese hinein zu sinken, so dicht umschließt der grollend vibrierende Sound von allen Seiten ihre Körper. Auch die Resonanz des Bühnenlichts wird hier erlebbar. Vor verschlossenen Lidern verändert sich die Scheinwerfereinstrahlung wie bei einer Sonne, vor die sich Wolken schieben. Das sinnliche Naturliebesgedicht mit dem Namen einer bescheidenen an jedem Waldes- und Feldrand wachsenden Pflanze endet mit einer Köpfe gen Himmel hebenden sitzenden Schubot-und Gradinger-Verschlingung in Knospenform. Aber kaum hat das tiefenentspannte Publikum das Ende der Performance klatschend erkannt, servieren Schubot und Gradinger ihm auch schon in Waldhütertracht und mit rollendem Heilsarmee-Teetisch entgiftenden Brennesseltee. Der Atmosphären-Garten als Ort der Zerstreuung, Erholung und plauderndem Austausch ist endgültig etabliert; ohne Blumenerde, Gartenschere und Dünger als frei wachsender und hierarchiebefreiter Gemeinschaftsraum menschlicher und künstlich angelegter nicht-menschlicher Wesen. Neben deutlichen Anzeichen weitreichender Entspannung bleiben zwei Fragen von diesem Abend übrig: Wie steht es um die Intelligenz unserer Sinne und Sinnessinne, wenn wir Naturverbundenheitserlebnisse auf der Bühne erst inszenieren müssen? Und wie könnte das Duo seine co-kreative Forschung gleichberechtigter Lebensformen weiterführen, ohne zu sehr ins Esoterische abzudriften und seine Gabe zur Gestaltung magischer Augenblicke aber auch nicht aufzugeben?