„Nijinski“, Marco Goecke © Regina Brocke

Nijinski im Schnelldurchlauf

Gauthier Dance gastiert mit Marco Goeckes Produktion „Nijinski“ am Haus der Berliner Festspiele.

Der russische Tänzer und Choreograf Vaslav Nijinski war seiner Zeit ein tänzerisches Ausnahmetalent. Auch heute noch gilt er als Synonym für perfekte Tanzkunst. Verwandlungsfähigkeit verband er spielend mit Grazie und einer beeindruckenden, arretierenden Sprungtechnik, so heißt es. Aber kein einziges Bewegt-Bild seines Tanzes wurde archiviert. Neben seinen Cahiers, den zahlreichen Biografien und Fotografien existieren so eigentlich nur wenig Informationen über Nijinski. Für den Choreografen Marco Goecke war das ein Grund, dem Leben des genialen Künstlers ein abendfüllendes Ballett zu widmen. „Nijinski“, ein (auto-)biografische Werk über Kunst und Wahnsinn, uraufgeführt 2016 mit Gauthier Dance im Theaterhaus Stuttgart, gastierte vergangenes Wochenende am Haus der Berliner Festspiele.

Es ist wohl genau dieses i-Tüpfelchen, diese kleine Abweichung im Titel, mit der Marco Goecke nicht nur auf die polnische Herkunft Vaslav Nijinskis verweist, sondern die seelische Entgleisung des gefeierten Ballettstars bereits andeutet. Letztere ist es auch, die Goecke mit Nijinsky verbindet. So leidet der geborene Wuppertaler mit steiler Choreografenkarriere zwar nicht unter Schizophrenie, hat aber immer wieder mit lähmenden Angstzuständen und Panikattacken zutun. Wie Empfindsamkeit und unermüdlicher Schaffensdrang einen in einem körperlich und mental fordernden Beruf bis an die Grenzen der Existenz führen können, dürfte er wissen.

Extrem minimalistisch ist die Umsetzung des Nijinski-Stoffs bei Goecke angelegt. Quasi im Zeitraffer berührt er die wichtigsten Personen und Stationen im Leben des großen Künstlers: Die Muse Terpsichore küsst die unbändige Kraft der Kunst wach, der göttliche Funken springt auch auf den von Erfolg besessenen Impressario und Kenner russischer Kunst Sergei Diaghilev über. Dann Auftritt Nijinski, Abschied von der liebevoll burschikosen Mutter, um in St. Petersburg Ballett zu studieren. Er hat Erfolg und versucht ihn zu halten. Erst hasst er in Liebe Diaghilev. Dann heiratet er eine Kollegin. Es folgen geistiger Verfall, ein steiler beruflicher Abstieg und Tod.

Goeckes Reminiszenzen an Nijinskis große Rollen in „Pétrouchka“, „L´après-midi d´une Faune“ und „Le Spectre de la Rose“ werden so temporeich gestreift, das für große Wiedererkennungseffekte keine Zeit bleibt. Faszinierend ist die Goecksche Geschwindigkeit aber in Hinblick auf Rosario Guerras rasantes Minenspiel, mit dem er in mechanischen Ballettposen und eiserner Disziplin gefangen, seiner seelischen Entgleisung ein sichtbares Äußeres verleiht.
Was von Nijinskis Biografie bleibt, ist die Schablone eines androgynen, sexuell begehrenden wie begehrten Wesens namens Nijinski, das sich aus Leidenschaft zur Kunst selbst zu Tode bringt — als Opfer und Täter zugleich, als Wili seiner selbst, wenn man so will.

Fazit: Auch wenn Marco Goeckes feinmechanische Stakkato-Bewegungssprache in ihrer augentäuschenden Brillanz immer wieder staunen lässt, ist an ihm kein großer Geschichtenerzähler verloren gegangen. Wie Goecke und Guerra in rasender Geschwindigkeit einen Charakter zeichnen, hat dennoch Seltenheitswert. Nichts desto trotz bleibt am Ende der Aufführung der schale Nachgeschmack fehlender Gefühlstiefe. Aber vielleicht ist es ja genau diese emotionale Verflachung, die sich mit Goecke gesehen, unbändig in das widersprüchliche Leben Nijinskys einschlich; ein Leben auf der Überholspur, ohnmächtig getrieben von der Liebe zur Kunst, voller dramatischer Momente und doch seltsam entleert.