„Correction“, VerTeDance © Vojtech Brtnicky

Lila – die Farbe der Saison. Oder: man ist nie zu alt für gutes Kindertheater

Das Festival „Purple“ zeigt zeitgenössischen Tanz für junges Publikum und erstrahlt dabei mit Mut zur Vielfalt im violetten Farbspektrum.

An sechs Tagen in diesem grauen Berliner Januar versammelt „Purple“ eine Reihe von Tanzproduktionen für Kinder und Jugendliche. Das Besondere: So unterschiedlich die Arbeiten in ihren Zielgruppen, ästhetischen Ansätzen und Fragestellungen erscheinen: es bleibt der Eindruck zurück, dass die von Canan Erek ausgewählten Stücke ihr Publikum ernst nehmen und darin weit mehr sind als didaktisch gut-gemeinte Selbstfindungs-Trips beflissener Theaterpädagog*innen. (So viel zu – leider weit verbreiteten – Vorbehalten gegen Kindertheater ). Ein Rückblick auf drei ausgewählte Stücke:

Nicht vom Fleck kommen – mit beiden Beinen im System

Die tschechische Tanztheatercompany VerTeDance entwirft ein melancholisch-feinsinniges Bild einer Gesellschaft, in der man nicht aus der Reihe tanzen kann. Sieben Tänzer*innen stehen in einer Linie, Seite an Seite, in einigem Abstand nebeneinander aufgereiht, mit dem Blick zum Publikum. Die Bewegungen, die sie ausführen können, sind limitiert – keines ihrer Beine lässt sich vom Boden anheben – ihre Füße scheinen wie festgeschraubt an den Schuhen, bzw. am Boden zu haften. Was ihnen bleibt, sind alle erdenklichen Winkel der Schräglagen, in die sie ihre Körper versetzen: Fallen, in sich zusammen Sinken, zu den Seiten Taumeln. In dieser Versuchs-Anordnung entspinnen sich kleine Beziehungsdramen, Gruppendynamiken, Verschwörungen zwischen Wut, Angst, aber auch Rückhalt und so etwas wie Aufbruch. Alle stehen im gleichen Boot.

VerTeDance stellen die (pädagogisch wertvolle) Frage nach Freiheit und Begrenzung von Freiheit, nach gegenseitiger Abhängigkeit und eigenem Weg. Was den Menschen bleibt, ist die Möglichkeit, sich gegenseitig an- bzw. weg zu schupsen, kleine Zeichen auszutauschen oder gemeinsam Anschwung zu nehmen. Trotz ihrer Begrenzung bewegen sie sich raumgreifend, um mit ausgebreiteten Handflächen flach nach vorn über zu kippen, oder rücklings auf dem Boden zu landen, an dem sie über die gesamte Dauer des Stücks verhaftet bleiben. Wenn Zwang die Abwesenheit von Bewegung ist, kann man noch nicht mal auf der Stelle treten. Zuweilen werden sie eine einzige pendelnde Reihe – sie wiegen sich in unterschiedlichen Rhythmen oder schwingen im gleichen Takt…

Wenn eine ganze Banane zweimal durch die Reihe wandert, bleibt am Ende nicht mehr viel übrig. Wer steht wo in der Versorgungs-Kette?

Das Potential dieses Stücks liegt darin, dass die politische Dimension dieser Choreografie zwar zeichenhaft bleibt – über die Bewegung aber konkret erfahrbar wird.
Wer traut sich als erstes, die Schnürsenkel zu öffnen? Am Ende des Applauses: acht paar verlassene Schuhe.

Bloß keine Kunst!

Mit „Chalk about“ der „Performing Group“ aus NRW ist ein seit 2013 tourendes Stück zu Gast bei Purple, das ein ganzes Spektakel aus Kreidezeichnungen auferstehen lässt und sich dabei mit Humor und Poesie der Unterschiedlichkeit der Menschen widmet. In diesem Duett (ursprüngliche choreografiert von Leandro Kees und Christine Devaney) entwerfen die Tänzer*innen Marcela Ruiz Quintero und Constantin Hochkeppel Portraits voneinander und sich selbst. Identitäten aus Kreide – fragil und wandelbar. Dabei geht es auch darum, was man (überhaupt) von sich selbst erzählen und preisgeben kann – und: in welcher Sprache wir zueinander sprechen können. Die Soundkollage aus Interviews von Kindern zu Lieblingsdingen, Ängsten und Wünschen sind teilweise auf Englisch und Deutsch, Constantin Hochkeppel erzählt seine Lebensgeschichte auf Französisch. Dass wir einander oft jenseits von Worten verstehen, stellt sich im Laufe des Stücks ebenso heraus wie die Unmöglichkeit, starre Identitäten zu behaupten. Oder: „Sehe ich aus wie jemand, der verheiratet ist? / Und wenn ich verheiratet wäre, wäre ich mit einem Mann oder einer Frau verheiratet? Glaube ich an Allah oder an Buddha oder an Jesus?“ sind Fragen, dessen Beantwortung dem Publikum überlassen werden. Dafür erfahren wir später, wie die beiden zum Tanzen gekommen sind, dass sie selbst Mutter geworden sind, einmal den „falschen Mann“ getroffen oder vor Jahren ihren Vater verloren haben. Umrisse von sich selbst als Kreidespuren auf dem Bühnenboden, Umrisse von geliebten Personen, von Geistern und Gefährten hängen als Stoffschabloben an weißen Luftballons und steigen zur Bühnendecke hinauf. Geschichten von Menschen fangen immer wieder von vorne an.

„Chalk about“ stellt aber auch die Frage, was wir (Kinder) uns von der Theaterbühne eigentlich erhoffen – oder auf keinen Fall mehr sehen wollen. Wenn wir der Umfrage der beiden glauben wollen, stehen alle Zeichen auf Spektakel: Riesendinosaurier stampfen über die Bühne, Haie attackieren die Zuschauer*innen, Auftritte von Zombies werden begleitet von Beyoncé („All the single ladies“) und Lukas Podolski. Die zwei „spielen“ alle Szenen, die sie laut Umfrage statt der eigentlichen Choreografie dessen hätten inszenieren sollen. „Echtes Wasser, echtes Blut, rollende Köpfe und rosa Elefanten…Alles außer Shakespeare – alles außer: ‚Kunst‘“. Der wahre Kern in dieser Slapstick-Einlage liegt in der Frage, für wen und wofür man eigentlich Theater macht. Chalk about ist eine berührende Mischung aus „echten Geschichten“ und solchen, die erzählt werden wollen.

Dass die Imagination von „echten Haien“ und „echten Zombies“ vielleicht sogar um einiges cooler ist als ihre Attrappen und dass sich eine Szene in dieser Kreide-Landschaft super schnell komplett umdrehen kann, ist sicher eines der Erfolgsrezepte von „Chalk About“. Ihr Bewegungsmaterial ist tatsächlich zeitgenössisch im Sinne einer Aneinanderreihung von Gestenmaterial, von dem wir (Kinder) ohnehin in Werbung, Serien und Internet umgeben sind – ein Durcheinander von kulturellen Codes (Beten, Drohgebärden, Posen, Mann*Frau-Attitüden, Popkultur – „all the single ladies“ , die verschränkten Hände von Angela Merkel… All das, kombiniert mit melancholischen und energetischen Tanzeinlagen, kann auch jemanden in den Bann ziehen, die 8+ seit einigen Jahren überschritten hat…

Hauptsache Spielen
Aus Utrecht kommt die Kompanie „De Dansers“, die mit ihrem Stück „Pokon“ (Choreografie Josephine van Rheenen) in erster Linie Spaß an der Bewegung auf die Bühne transportieren. „When I was a child, I’d never sleep at night“, singt einer der Performer und das scheint eine der Grundfeste von „Pokon“ zu sein – es geht immer irgendwie weiter, was zählt, ist das Spiel. Die drei Tänzer-Performer*innen Stephan Bikker, Guy Corneille und Noemi Wagner fegen mit vollem Körpereinsatz über die Bühne, erwecken Leitern, Tische und Bambuspflanzen zum Leben, verwandeln sich in wild gewordene Affen oder regungslose Puppen. Interessant zu beobachten (aus Erwachsenenperspektive) ist, wie aufmerksam das junge Publikum neben all den akrobatischen Taumel auch für kleinste Szenen und Zwischentöne ist. Manchmal braucht es nicht viel mehr als einen Blickwechsel zwischen den Dreien, um kleine Lachanfälle auszulösen. Dabei ist es in der Logik des Spiels dann auch egal, wie die einzelnen Szenen zueinander stehen oder ob es eine klare Aussage hinter den Spielanweisungen gibt. Jemand klemmt in der Leiter fest und braucht Hilfe vom Publikum, um sich zu befreien. Stöcker werden zu Stiften, zu Telefonhörern, jemand bekommt Schluckauf, jemand liegt regungslos auf dem Boden und wird von den anderen wieder erweckt. Ohne beliebig zu wirken, versammelt dieses Tanztheater unterhaltsame Szenen voller Bewegung. Moderne Kunst ab 4 Jahren.