„TANZABEND 4 – Identität ist sowieso Quatsch“, Juli Reinartz © David Baltzer

Chamäleon-Ich

Theater Thikwa, Juli Reinartz und Martin Nachbar faszinieren beim Tanzabend 4 mit entgrenzten Identitäten und ein bißchen zu viel Konzeptfolie

Es ist schon beinahe ein interkulturelles Erlebnis, per U-Bahn von Pankow in den Bergmannkiez zu wechseln. Auf bergigen Straßen reihen sich hier gut gepflegte Altbauten aneinander und an jeder Ecke gibt ein nettes kleines Café — purer Paris-Flair. Auch das (Tanz-)Theater Thikwa und seine künstlerische Werkstatt sind in diesem Kiez beheimatet. Gut versteckt in einem verträumten Hinterhof in der Fidicinstraße wird hier seit nunmehr 28 Jahren Theater durch künstlerisches Zusammenwirken von behinderten und nicht-behinderten Schauspieler*innen praktiziert. Auch tänzerisches Arbeiten gehört beim Thikwa-Ensemble dazu. Dafür zeichnen sich die Choreografinnen Linda Weißig und Makiko Tominaga verantwortlich. Vor drei Jahren dann startete der erste von bisher insgesamt vier Tanzabenden mit Choreografen*innen und Tänzer*innen aus der Berliner Szene — darunter Angela Schubot, Modjgan Hashemian sowie Yuko Kaseki, und, für den aktuellen „Tanzabend 4: „Identität ist sowieso Quatsch““, auch Martin Nachbar und Juli Reinartz.

Juli Reinartz und ihre fünf Performer*innen fragen danach, was Menschen zukünftig jenseits von Selbstoptimierungsstrategien glücklich machen könnte. Ihre dreißigminütige Tanzskizze zeigt: Nicht Apps und andere Programme zur Überwachung des auf Effizienz getrimmten Einzelkämpfer-Ichs sind die Technologie von Morgen, sondern flüchtige Kollektive. In knappen Sportoutfits treten Addas Ahmad, Tiana Hemlock-Yensen, Konstantin Langenick, Anne-Sophie Mosch und Hilarus Urban auf die Bühne. Kaschiert wird dabei kaum etwas, wo Speckröllchen sind, dürfen auch welche angeschaut werden. Es folgen drei Szenen gemeinschaftlicher Selbstentschleunigung und bedingungsloser Hingabe an eine gemeinsame Sache. Zu dezent im Hintergrund eingesetzter repetitiver elektronischer Musik geht die an Körperformen und Temperamenten reiche Gruppe auf Tuchfühlung. In Duetten, Trios und Quintetten lehnen sie sich aneinander, heben und tragen sich oder legen sich aufeinander ab. Das in intimer hermetischer Abgeschlossenheit zwischen zwei spiegelnden Stellwänden stattfindende Körper-Begegnungs-Experiment wird beinahe etwas zu lange ausgekostet, wäre da nicht der gelungene Übergang zum nächsten und wohl überzeugendsten Bewegungsbild vorübergehender Gemeinschaftsbildung. Wie schwerelos schweben die Performer*innen auseinander, um am Bühnenrand zu einem laut dröhnenden AC/DC-Song erneut zusammenzufinden. Doch die Erwartung, das hier gleich ordentlich abgerockt wird, erfüllt sich nicht: In einer Reihe nebeneinanderstehend mimen sie den Bühnen-Körperkult großer Rockstars, dehnen kraftvolle Posen in radikaler Verlangsamung wie zähes Kaugummi und führen das Publikum an der Rollingstones-Zunge herum. Was von dieser Szene bleibt, ist ein wirkliches Kaugummi, mit dem ein Performer und eine Performerin Contact-Improvisation von Mund zu Mund betreiben. In trauter Kuschelrockzweisamkeit oder mit Lambada-Hüftschwung treffen sich die Fünf bald darauf im Schein einer Diskokugel und lümmeln auch mal ganz unbedarft und neckisch im Publikum herum. —“really really soft Sci-Fi“!

Die Performance von Martin Nachbar und seinen ebenfalls fünf Performerinnen dreht sich um Traum- oder erträumte Identitäten. „Wer wäre ich gerne? Jemand echtes, aber vielleicht auch eine ganz neue Figur oder gar eine neue Spezies? Es wird eine Art Spiel … Nicht als Flucht vor der Realität gemeint, sondern als Erweiterung, als Möglichkeit, sich neu zu denken, zu fühlen, zu bewegen“. Eine Handvoll Männer und Frauen strandet auf der Bühne wie auf einer einsamen Insel. Sie alle tragen Tarnanzüge. Das müssen sie sich bei den Chamäleons abgeschaut haben, erzählt einer der Performer in einer aufklärerisch und pseudowissenschaftlich ambitionierten Einführungs-Lecture zur Performance doch von den phänomenalen Fähigkeiten dieser Leguanartigen zur nonverbalen Farbwechsel-Kommunikation. Auch Feindesabwehrstrategien mittels Camouflage haben diese Tiere mit den seltsam souveränen Augenpaaren drauf. Kurzum: die nachbarsche Tierforme/L/N-Folie, auf der sich Felix Brüning, Deniz Dogan bzw. Verena Sepp, Katharina Maasberg, Sammy Serag und Christian Wollert bewegen werden, ist schnell ausgelegt und der Trupp potentieller Verwandlungskünstler bereit, gemeinsam unbekanntes Choreografen-Gebiet zu erkunden. Per Scheinwerferlicht und Diskokugel werden die nunmehr folgenden Traumszenen in unterschiedlichen Farben untermalt und jeder Exkursionsteilhabende bekommt gleichberechtigt sein persönliches Wunschpäckchen geschnürt. Die Assoziationen zum Thema Chamäleon beginnen zu tanzen: Aus einem Truppführer, der seine Soldaten im Kreise herumkommandiert (— Widerstand zwecklos!), wird ein Zirkusdirektor mit Ponyreigen, der sich selbst an die Wand stellt und sich — Lachgesichter ins Gesicht zeichnend — als Clown denunziert. Dann alle Mann und Frau raus vor die Tür zum Wolfsgeheul. Doch hereinspaziert kommt – Spot an! – ein Löwenkopf auf dem Arm eines Performers in Rapper-Tracht. Der Löwenkopf wird zum Mikro geführt. Sieht auch ganz lebendig aus. Dennoch: Kein Gebrüll. Aber der Wunsch-Rapper hat´s drauf, legt los, ziemlich gut mit kratzig-katzigem Beatboxing. Es folgt eine Laufstegnummer für alle in einer aninszenierten Disko – hier will sich keiner verstecken, im Gegenteil: Sehen und gesehen werden, ist gefragt. Auftritt der Schlangenmenschin – wirklich verführerisch. Nochmal Disko, mit -Kugel und Punkten, die über die Wände flitzen, gejagt von einer nun eidechsenartig sich bewegenden Schlangenmenschin. Alle ab, bis auf die letzte Performerin. Das Meeresrauschen vom Anfang setzt ein. Die Diskokugel übt den Wellenschlag und über den Bühnenstrand sieht man in gemächlichem Vierfüßlergang eine Katzenbärin gehen. Sie trägt einen Tarnanzug mit zarten Schmetterlingsaufnähern, schubbert sich den Rücken im Takt des Meeres an der Wand und verschwindet im Dickicht der imaginären Illusionsmaschinerie.
Fazit: Auch, wenn ich das Stück zu meinem persönlichen Martin-Nachbar-Favorit erklärt habe und das Katzenbärinnen-Solo wie so viele andere Szenen im Stück einfach zauberhaft fand, bleiben zwei kritische Fragen an dieses Projekt: Zu welchem Anteil sollte die eigene Ästhetik des eingeladenen Choreografen / der eingeladenen Choreografin in die Tanzabende einfließen? Und welchen Stellenwert hat dahingegen der Versuch, gemeinsam künstlerisch-ästhetisches Neuland zu betreten?