Theater Thikwa, Juli Reinartz und Martin Nachbar faszinieren beim Tanzabend 4 mit entgrenzten Identitäten und ein bißchen zu viel Konzeptfolie
Es ist schon beinahe ein interkulturelles Erlebnis, per U-Bahn von Pankow in den Bergmannkiez zu wechseln. Auf bergigen Straßen reihen sich hier gut gepflegte Altbauten aneinander und an jeder Ecke gibt ein nettes kleines Café — purer Paris-Flair. Auch das (Tanz-)Theater Thikwa und seine künstlerische Werkstatt sind in diesem Kiez beheimatet. Gut versteckt in einem verträumten Hinterhof in der Fidicinstraße wird hier seit nunmehr 28 Jahren Theater durch künstlerisches Zusammenwirken von behinderten und nicht-behinderten Schauspieler*innen praktiziert. Auch tänzerisches Arbeiten gehört beim Thikwa-Ensemble dazu. Dafür zeichnen sich die Choreografinnen Linda Weißig und Makiko Tominaga verantwortlich. Vor drei Jahren dann startete der erste von bisher insgesamt vier Tanzabenden mit Choreografen*innen und Tänzer*innen aus der Berliner Szene — darunter Angela Schubot, Modjgan Hashemian sowie Yuko Kaseki, und, für den aktuellen „Tanzabend 4: „Identität ist sowieso Quatsch““, auch Martin Nachbar und Juli Reinartz.
Juli Reinartz und ihre fünf Performer*innen fragen danach, was Menschen zukünftig jenseits von Selbstoptimierungsstrategien glücklich machen könnte. Ihre dreißigminütige Tanzskizze zeigt: Nicht Apps und andere Programme zur Überwachung des auf Effizienz getrimmten Einzelkämpfer-Ichs sind die Technologie von Morgen, sondern flüchtige Kollektive. In knappen Sportoutfits treten Addas Ahmad, Tiana Hemlock-Yensen, Konstantin Langenick, Anne-Sophie Mosch und Hilarus Urban auf die Bühne. Kaschiert wird dabei kaum etwas, wo Speckröllchen sind, dürfen auch welche angeschaut werden. Es folgen drei Szenen gemeinschaftlicher Selbstentschleunigung und bedingungsloser Hingabe an eine gemeinsame Sache. Zu dezent im Hintergrund eingesetzter repetitiver elektronischer Musik geht die an Körperformen und Temperamenten reiche Gruppe auf Tuchfühlung. In Duetten, Trios und Quintetten lehnen sie sich aneinander, heben und tragen sich oder legen sich aufeinander ab. Das in intimer hermetischer Abgeschlossenheit zwischen zwei spiegelnden Stellwänden stattfindende Körper-Begegnungs-Experiment wird beinahe etwas zu lange ausgekostet, wäre da nicht der gelungene Übergang zum nächsten und wohl überzeugendsten Bewegungsbild vorübergehender Gemeinschaftsbildung. Wie schwerelos schweben die Performer*innen auseinander, um am Bühnenrand zu einem laut dröhnenden AC/DC-Song erneut zusammenzufinden. Doch die Erwartung, das hier gleich ordentlich abgerockt wird, erfüllt sich nicht: In einer Reihe nebeneinanderstehend mimen sie den Bühnen-Körperkult großer Rockstars, dehnen kraftvolle Posen in radikaler Verlangsamung wie zähes Kaugummi und führen das Publikum an der Rollingstones-Zunge herum. Was von dieser Szene bleibt, ist ein wirkliches Kaugummi, mit dem ein Performer und eine Performerin Contact-Improvisation von Mund zu Mund betreiben. In trauter Kuschelrockzweisamkeit oder mit Lambada-Hüftschwung treffen sich die Fünf bald darauf im Schein einer Diskokugel und lümmeln auch mal ganz unbedarft und neckisch im Publikum herum. —“really really soft Sci-Fi“!
Die Performance von Martin Nachbar und seinen ebenfalls fünf
Performerinnen dreht sich um Traum- oder erträumte Identitäten. „Wer
wäre ich gerne? Jemand echtes, aber vielleicht auch eine ganz neue Figur
oder gar eine neue Spezies? Es wird eine Art Spiel … Nicht als Flucht
vor der Realität gemeint, sondern als Erweiterung, als Möglichkeit, sich
neu zu denken, zu fühlen, zu bewegen“. Eine Handvoll Männer und Frauen
strandet auf der Bühne wie auf einer einsamen Insel. Sie alle tragen
Tarnanzüge. Das müssen sie sich bei den Chamäleons abgeschaut haben,
erzählt einer der Performer in einer aufklärerisch und
pseudowissenschaftlich ambitionierten Einführungs-Lecture zur
Performance doch von den phänomenalen Fähigkeiten dieser Leguanartigen
zur nonverbalen Farbwechsel-Kommunikation. Auch Feindesabwehrstrategien
mittels Camouflage haben diese Tiere mit den seltsam souveränen
Augenpaaren drauf. Kurzum: die nachbarsche Tierforme/L/N-Folie, auf der
sich Felix Brüning, Deniz Dogan bzw. Verena Sepp, Katharina Maasberg,
Sammy Serag und Christian Wollert bewegen werden, ist schnell ausgelegt
und der Trupp potentieller Verwandlungskünstler bereit, gemeinsam
unbekanntes Choreografen-Gebiet zu erkunden. Per Scheinwerferlicht und
Diskokugel werden die nunmehr folgenden Traumszenen in unterschiedlichen
Farben untermalt und jeder Exkursionsteilhabende bekommt
gleichberechtigt sein persönliches Wunschpäckchen geschnürt. Die
Assoziationen zum Thema Chamäleon beginnen zu tanzen: Aus einem
Truppführer, der seine Soldaten im Kreise herumkommandiert (— Widerstand
zwecklos!), wird ein Zirkusdirektor mit Ponyreigen, der sich selbst an
die Wand stellt und sich — Lachgesichter ins Gesicht zeichnend — als
Clown denunziert. Dann alle Mann und Frau raus vor die Tür zum
Wolfsgeheul. Doch hereinspaziert kommt – Spot an! – ein Löwenkopf auf
dem Arm eines Performers in Rapper-Tracht. Der Löwenkopf wird zum Mikro
geführt. Sieht auch ganz lebendig aus. Dennoch: Kein Gebrüll. Aber der
Wunsch-Rapper hat´s drauf, legt los, ziemlich gut mit kratzig-katzigem
Beatboxing. Es folgt eine Laufstegnummer für alle in einer
aninszenierten Disko – hier will sich keiner verstecken, im Gegenteil:
Sehen und gesehen werden, ist gefragt. Auftritt der Schlangenmenschin –
wirklich verführerisch. Nochmal Disko, mit -Kugel und Punkten, die über
die Wände flitzen, gejagt von einer nun eidechsenartig sich bewegenden
Schlangenmenschin. Alle ab, bis auf die letzte Performerin. Das
Meeresrauschen vom Anfang setzt ein. Die Diskokugel übt den Wellenschlag
und über den Bühnenstrand sieht man in gemächlichem Vierfüßlergang eine
Katzenbärin gehen. Sie trägt einen Tarnanzug mit zarten
Schmetterlingsaufnähern, schubbert sich den Rücken im Takt des Meeres an
der Wand und verschwindet im Dickicht der imaginären
Illusionsmaschinerie.
Fazit: Auch, wenn ich das Stück zu meinem persönlichen
Martin-Nachbar-Favorit erklärt habe und das Katzenbärinnen-Solo wie so
viele andere Szenen im Stück einfach zauberhaft fand, bleiben zwei
kritische Fragen an dieses Projekt: Zu welchem Anteil sollte die eigene
Ästhetik des eingeladenen Choreografen / der eingeladenen Choreografin
in die Tanzabende einfließen? Und welchen Stellenwert hat dahingegen der
Versuch, gemeinsam künstlerisch-ästhetisches Neuland zu betreten?