„Obnimahki“, Anna Aristarkhova © Philipp Weinreich

Zwischen Kopf und Bauch

Die Doppelvorstellung von Anna Aristarkhovas „Obnimashki“ und Maria Walsers „What A Thought Is Not“ im Ballhaus Ost hinterfragt Körperlichkeiten und Begrifflichkeiten.

Auch wenn beide Performances mit festgelegten Fixpunkten und Texten, jedoch ohne feste Choreografie arbeiten, wäre es falsch, „Obnimashki“ und „What A Thought Is Not“ miteinander zu vergleichen. Aristarkhovas Performance ist eine tänzerische Auseinandersetzung mit Umarmungen (russisch: „Obnimashki”), „What A Thought ist not” – inspiriert durch Jean Baudrillards „Das radikale Denken” – verfolgt einen philosophischen Ansatz und verdreht Denkstrukturen. Was die Stücke verbindet, ist ihr Erfolg bei den letzten Berliner Tanztagen in den Sophiensaelen sowie die Tatsache, dass sie jetzt in einem Doppelabend am Ballhaus Ost wieder zu sehen waren. Gut, dass Berliner Kurator*innen sich auch untereinander umgucken.

Für die Recherche zu dem Stück, das im Rahmen von Aristarkhovas Master-Abschlussarbeit am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin (HZT) entstand, begab sich die Choreografin ins Bürgeramt Neukölln und befragte die Wartenden über das Thema Umarmung: Wie oft wird die Person umarmt? In welchen Situationen wird sie oder er umarmt? Ist es eine aktive oder passive Umarmung? Nach jeder Befragung umarmte sie den- oder diejenige. Sie forschte, wann eine Umarmung angenehm, wann sie als unangenehm empfunden wird und kristallisierte 50 verschiedene Arten von Umarmungen heraus: Die romantische, die schüchterne, die versöhnende, die überraschende oder die sexuelle Umarmung zum Beispiel. Daraus entwickelte Aristarkhova eine Choreografie mit fünf Performer*Innen. Wie der Abend verlaufen wird, hängt jedoch nicht nur von den Performer*innen, sondern auch von den Zuschauer*innen ab.

Beim Betreten des Raumes befinden sich alle Künstler*innen (Lulu Obermayer, Anna Fingerhuth, Grėtė Šmitaitė, Yuya Fujinami, Jonas Maria Droste) schon auf der Bühne. Sie umgreifen ihre Arme oder Beine und umarmen sich quasi selbst. Das kann ein einfacher Griff an den Knöchel sein, ein Umgreifen des Beines im Dehnungsschritt oder die Umschlingung des Halses mit dem eigenen Arm. Im Laufe der Performance fassen und umfassen die Performer*innen einander, verschränken sich in-, mit- und gegeneinander, lieben sich und stoßen sich voneinander ab. Am Mikrofon gesprochene Zahlen bilden die Struktur. Bei „One“ ist es eine/r, bei „Two“ sind es zwei. Das Spiel wird so lange durchgespieltbis alle fünf ihre Beine teilweise auf absurde Weise festhalten. Schmunzelmomente, die die Performance immer wieder hervorruft. Vor allem Anna Fingerhuth, die schon 2012 am Staatstheater Braunschweig mit Aristarkhova arbeitete, beherrscht die Kunst der stummen Komik perfekt. Ob Mann oder Frau, jede*r wird mal mehr, mal weniger umarmen.

Geschlechterunterschiede werden keine gemacht. Kulturelle Unterschiede gibt es schon. Ein Performer ist japanischer Herkunft. In der Öffentlichkeit bestehen japanische Begrüßungen aus Verbeugungen, nicht aber aus Umarmungen. Dies aufnehmend, arbeitet Aristarkhova auch mit Nicht-Umarmungen. Mit ausgebreiteten Armen und gestreckten Fingern versuchen zwei Performer*innen einander zu berühren, aber stoßen sich doch ab. Richtige Angstmomente kreiert Aristarkhova jedoch nicht, sie konzentriert sich vor allem auf den positiven Aspekt von Umarmungen.

Obwohl das Publikum die Einladung, wie man sich gegenseitig umarmt, nicht für sich umsetzt, sondern ausschlägt, wird die Energie auf der Bühne dem Publikum entgegen immer stärker. Je mehr Umarmungsarten ausprobiert werden  – eine Zweier-, Dreier-, Vierer- oder Fünferumarmung – umso größer wird mein Wunsch, auch gedrückt zu werden. Der zählende Aufruf am Ende, auf die Bühne zu kommen, wird allerdings nur von wenigen Zuschauer*innen wahrgenommen. Die auf der Bühne Verbleibenden tanzen eng umschlungen zu „Love Scene Version 6“ von Pink Floyd. Es ist wahrlich eine Szene voller Liebe.

„What A Thought Is Not“ von Maria Walser widmet sich nicht den körperlichen und emotionalen Mechanismen, sondern den Mechanismen des menschlichen Denkens. Gemeinsam mit Ariel Cohen hinterfragt Walser Begrifflichkeiten, verdreht Realität und Logik und bewegt sich jenseits von Sinn, aber mit Verstand. Die durch die Lektüre von Jean Baudrillards „Das radikale Denken“ inspirierte Performance erfordert höchste Konzentration des Zuschauers. Der französische Soziologe und Philosoph aus dem 20. Jahrhundert entkontextualisiert in seinem Buch Dinge, indem er das Verhältnis von Denken und Sprechen hinterfragt.

Auch Walser sucht die Verwirrung. Sie strukturiert in ihrer Performance klare Abläufe so um, dass erst Wasser aus einem Glas getrunken wird und dann das Glas selbst getrunken wird. Die Sprache wird durch Bewegung ad absurdum geführt. Sprachspiele, die Baudrillards „radikales Denken“, das nicht auf Irrationalität, sondern verdrehter Realität (genannt: Illusion) fußt, würdigen. Walser befreit sich von allen Regeln, um das Denken neu zu bestimmen.

Da ist es schon fast nicht mehr verwunderlich, dass ein Pinguin mit Schweine- und einer mit Eichhörnchenkopf die Performance einleiten. Nach ihrer etwas zu ausführlichen, aber durchaus verständlichen Einweisung in Baudrillards Denken sind beide Pinguine plötzlich verschwunden und Ariel Cohen erscheint. Dann wird’s ziemlich schnell komplex. Cohen nimmt den Stuhl und definiert ihn um: „Now it takes the role of the meaning.“ Der Stuhl ist ab sofort der Sinn, den Boden definiert sie zur Welt um, sie selbst wird die Wahrheit und Maria Walser, die sodann die Bühne betritt, zur Realität. Es folgen Wortspiele, Vertauschungen der Reihenfolge in tanzender und sprechender Weise. Auch wenn die Performance sich etwas in die Länge zieht, ist der Grundgedanke von Baudrillard erfasst: Ohne Sinn macht’s auch Sinn. Ohne Verstand nicht.