„Sunrise Sunset“, Przemek Kamińsky ©Dorothea Tuch

Zwischen Fiktion und Tod, ein Grand Jeté

Mit „Sunrise Sunset“ entwirft Przemek Kamiński zusammen mit Martin Hansen im HAU2 eine leuchtend-spekulative Collage aus biografischen Schnipseln des Judson-Church-Tänzers und Andy-Warhol-Schauspielers Fred Herko.

Am 27. November 1960 inszeniert Yves Klein in einer französischen Kleinstadt seinen „Sprung in die Leere“. Vier Jahre später, am 27. Oktober, springt der Tänzer Fred Herko nackt in New York City aus dem fünften Stock und stirbt. Kannte er die als Fotomontage legendär gewordene Kunstaktion Yves Kleins – und war er sich der ungefähren zeitlichen Übereinstimmung bewusst? War sein Grand Jeté ein gewollter Suizid oder eine verunglückte Performance?

Herko gehörte in den 1950er und 60er Jahren nicht nur zum postmodernen Judson Dance Theater, sondern auch zu Andy Warhols Künstlerkreis und hatte in einigen von Warhols frühen Filmen mitgespielt. Der 40-minütige Film, „Roller Skate“, in dem sich Herko auf nur einem Rollerskate blutend und humpelnd, aber lächelnd durch New York bewegt, ist ihm selbst gewidmet – und Grundlage für die erste Szene von „Sunset Sunrise“ von Przemek Kamiński, das er gemeinsam mit Martin Hansen über ein halbes Jahrzehnt später auf der Bühne des HAU2 zeigt. 

An einem Fuß einen Rollerskate, am anderen einen Asics-Sneaker drehen die beiden Performer gegenläufige Runden, bis sie an einem weißen Quader, dem einzigen Gegenstand auf der Bühne, platziert im vorderen linken Teil, Halt machen. Die Hinterbühne ist mit abstrakt bemalten Stoffbahnen abgehängt, die illuminiert werden. Das rötlich-orangefarbene Licht, das manchmal ins Violette spielt, suggeriert je nach Helligkeit Sonnenaufgang und Sonnenuntergang und bringt die kurzen orange- und lilafarbenen Bodys mit den dazu passenden Mund-Nasen-Schutzmasken zum Leuchten. Schwankend zwischen Verführung und Wettkampf imitieren sie Ballettfiguren, mehr nachahmend als ausführend. Grand plié, Relevé und Arabesque bleiben gewollt unfertig, die Körpermitte nicht so deutlich stabilisierend wie es die Perfektion des Balletts verlangt. Die Rollschuhe und Sneaker, die die Spitzenschuhe ersetzten, verweisen auf die entgrenzende Erweiterung des postmodernen Tanzes, der zunehmend mit Alltagsbewegungen experimentierte: „Terpsichore in Sneakers“, wie Sally Banes es in ihrem Standardwerk zum Postmodern Dance nannte. 

Das Verschieben des weißen Quaders leitet den Szenen- und Kostümwechsel ein. Das Licht, stark gedimmt, lässt die Videoschnipsel, die auf die Stoffbahnen projiziert werden erkennen – verschwommene Gesichter die schwer zu entziffern sind: Fred? Przemek? Martin?

Die Rollschuhe werden abgeschnallt und dünne Tüllkleidchen über den Body gezogen. Przemek Kamiński und Martin Hansen beginnen im Gleichschritt, synchron, über die Bühne zu schreiten, die Hände hinter ihren Rücken verschränkt. Die Ballettschritte werden zunehmend freier und – als der harte Beat vom Underworld-Track „Born Slippy“ einsetzt – für einen kurzen Moment zum ekstatischen Rave. Wieder wird der Quader – jetzt nach rechts vorne – verschoben. Die Stimmung wird deutlich ruhiger und unaufgeregter. Die Bewegungen reduzieren sich auf feminin zarte, wedelnde Handgesten. Als das Licht noch dunkler und bläulicher zum Sunset wird, gibt es einen letzten Kostümwechsel. Die Videoprojektion zeigt jetzt deutlich erkennbar die Gesichter der beiden. Übereinandergelegt verschmelzen ihre Gesichtszüge zu einer rätselhaften kollektiven Physiognomie, die Raum für Spekulationen lässt. 

Auf weißen Socken, in seidene Morgenmäntel gehüllt und jetzt eine mit Lametta besetzte glitzernde Gesichtsmaske tragend, verschwinden die beiden tanzend zwischen den Stoffbahnen und schreiten, Handspiegel vor ihre Gesichtern haltend, rückwärtsgewandt langsam wieder aus ihnen heraus. Der liebesunfähige Narziss, der nur sich selbst bespiegeln kann?

Die Videocollage zeigt währenddessen Blumensträuße, die in einer Mülltonne liegend begossen werden, eine Badewanne, ein Tanzstudio, ein offenes Fenster – vermutliche Zitate, die vielleicht beabsichtigt rätselhaft bleiben. Als sich die Tänzer Kamiński und Hansen am Quader niederlassen, sind wie zu Beginn des Stückes Zeilen aus einem Gedicht zu hören. Die letzten Strophen verhallen in der einsetzenden Dunkelheit der Bühne: „A Secret“. 

Natürlich muss ich nicht jedes kleine biografische Detail der Collage, die Kamiński und Hansen als eine, wie mir scheint, zu formal-lineare Aneinanderreihung von Szenen inszenieren, entschlüsseln können, um in die wunderschön leuchtenden Bilder, die Licht, Kostüm und Bewegungen bilden, eintauchen zu können. (Nur zwei kleine Auflösungen: die begossene Mülltonne ist ein Zitat aus Elaine Summers Film „Judson Fragments“ und vor seiner finalen Performance nahm Herko ein langes Bad.) Die Erinnerungen an Herko, die hier tänzerisch verarbeitet werden, sind selber nur flüchtige Momentaufnahmen, die sich wiederum auf flüchtige und selektive Aspekte der Vergangenheit berufen. Also eine Tanzperformance, die über ihre eigene Geschichte nachdenkt, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu haben.

Trotzdem bleibt das Gefühl, keinen Zugang gefunden zu haben. Die so spannende wie fragmentarisch überlieferte Tanz-Biografie von Fred Herko bleibt ein versiegeltes Geheimnis, dessen Spuren ich, würde ich diesen Text nicht schreiben, kaum weiterverfolgt hätte.


„Sunrise Sunset“ ist noch am 5. und 6. Oktober um 19.00 Uhr im HAU2 zu sehen. 

Choreografie: Przemek Kamiński — Performance: Martin Hansen, Przemek Kamiński — Premiere: 3. Oktober 2020 im HAU Hebbel am Ufer — Dauer: 50 Minuten